Damit das Handwerk im wirtschaftlichen Wettbewerb bestehen kann, muss die Digitalisierung zur Chefsache gemacht werden, meint Friedrich Hubert Esser. (Foto: Monika Nonnenmacher)

Damit das Handwerk im wirtschaftlichen Wettbewerb bestehen kann, muss die Digitalisierung zur Chefsache gemacht werden, meint Friedrich Hubert Esser. (Foto: Monika Nonnenmacher)

Vorlesen:

"Wir müssen Handwerk neu denken!"

BIBB-Präsident Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser spricht im Interview mit dem DHB über die Herausforderungen der Digitalisierung im Handwerk und in der Bildungspolitik.

Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser, hat in einem Interview mit dem Deutschen Handwerksblatt angeregt, sich stärker auf die jungen Leute und ihre Bedürfnisse in der Arbeitswelt einzustellen. Moderne Berufsbilder ermöglichten, die Begabungen und Interessen der Jugend in der Digitalisierung zu nutzen.

DHB: Herr Prof. Esser, was hat sich Ihrer Meinung nach in der Lern- und Arbeitswelt in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Esser: Im Gegensatz zum analogen Zeitalter versetzen uns die heute üblichen, vor Jahren noch ungeahnten Rechnerleistungen in die Lage, unsere Lern- und Arbeitswelt grundlegend zu verändern. Vor allem die heute möglichen Formen des Virtual Learning haben mit dem E-Learning vergangener Jahre nichts mehr zu tun.

DHB: War es auch die Art der Angebote des E-Learnings, die nicht marktreif waren?
Esser: Vor dem Hintergrund der Ansprüche, die die Lernenden damals an die Lehrangebote stellten, muss ich Ihre Frage eindeutig mit "ja" beantworten. Die Anfänge des E-Learnings waren durch textlastige Angebote und wenig Interaktion gekennzeichnet. Da musste man schon über sehr hohe Selbstlernkompetenz verfügen, die viele so nicht mitbrachten.

DHB: Und heute?
Esser: Das Kommunikations- und damit auch das Lernverhalten der jungen Leute sind heute völlig anders. Der Gebrauch von Smartphones und Tablets zur Kommunikation wie auch zum Lernen ist für viele selbstverständlich. Dabei eröffnet die Technik immer größere Spielräume für Flexibilität, Individualität und Komplexitätsbewältigung. Dazu kommt, dass die Produktion onlinebasierter, interaktiver Lehr- und Lernangebote viel preiswerter geworden ist. Das alles macht Online-Lernen sowohl für Anbieter als auch für Nachfrager von Bildung attraktiv.

Das könnte Sie auch interessieren:

DHB: Digitale Angebote sind demnach grundsätzlich besser?
Esser: Nicht zwingend. Es kommt auf den gescheiten Mix analoger und digitaler Angebote an – je nachdem, was für ein Ziel jemand mit dem Lernen verfolgt.

DHB: Die Bildungsstätten des Handwerks, der Kammern, wie sind die auf die neuen Trends vorbereitet?
Esser: Die Bildungs- und Kompetenzzentren des Handwerks haben in den vergangenen Jahren mit der Digitalisierung vorbildlich Schritt halten können. In vielen Zentren finden wir hervorragende Möglichkeiten vor, die die sich heute eröffnenden Spielräume der Weiterentwicklung der Lernwelt nutzen.

DHB: Für wen hat die Digitalisierung besondere Bedeutung im Handwerk?
Esser: Modernes Handwerk zeichnet sich durch das Angebot individueller Produkte und Dienstleistungen, verbunden mit hochwertigen Services und Beratungen, aus. Hierzu eröffnen digitale Systeme beziehungsweise Technologien den Handwerksbetrieben neue und innovative Möglichkeiten von Produktion, Distribution, Marktauftritt und Kundenkommunikation. Von daher hat die Digitalisierung für das gesamte Handwerk Bedeutung.

DHB: Wie verändert sich die Arbeitswelt des Facharbeiters heutzutage in Industrie und Handwerk?
Esser: Bei den Handwerksberufen sehe ich die Entwicklung, dass digitale Werkzeuge und Unterstützungssysteme zunehmend die gewerklichen Wertschöpfungsketten durchdringen, genauso wie die Angebote vieler Handwerksbetriebe zunehmend digitale Komponenten aufweisen werden. IT-Kompetenz wird deshalb in Zukunft als Schlüsselqualifikation in vielen handwerklichen Berufsbildern Bedeutung haben. Der Facharbeiter in der Industrie wird immer weniger am Produkt selbst arbeiten und mehr zum Steuerer beziehungsweise Controller von Fertigungsprozessen. Dabei bedient er sich digitaler Instrumente. Auch für ihn wird IT-Know-how zur Bewältigung der Arbeitsanforderungen elementar sein.

DHB: Welche Bedeutung haben die digitalen Kompetenzzentren des Handwerks, die jüngst eingerichtet wurden?
Esser: Digitale Kompetenzzentren sind enorm wichtig, damit die Klein- und Kleinstbetriebe nicht vom digitalen Strukturwandel abgeschnitten werden. Im Rahmen überbetrieblicher Lehrgänge, Meisterkursen oder speziellen Informations- und Weiterbildungsangeboten können Handwerker hier 4.0-Technologien kennenlernen und im Umgang mit ihnen qualifiziert werden.

DHB: Müssen die Handwerker und Handwerkerinnen Angst vor der Digitalisierung haben?
Esser: Mögliche Brüche oder Disruptionen werden eher die Industrie als das Handwerk treffen. In vielen Berufen können Handwerker ihre Kompetenz weiter entfalten. Die neuen digitalen Hilfsmittel machen in vielen Berufen die Optimierung der gewerkespezifischen Wertschöpfungsketten möglich, genauso wie die Angebotspaletten erhöht werden können. Diese Aussichten motivieren und schrecken nicht ab.

DHB: Was bedeutet dies für die einzelnen Gewerke?
Esser: Zunächst mehr Spielraum für Weiterentwicklung und Innovation. Digitalisierung wird aber auch dazu führen, dass in Teilen des Handwerks Gewerkeabgrenzungen verschwimmen werden. Technologiebedingte systemische Verknüpfungen machen mehr Leistungen aus einer Hand möglich, denken Sie beispielsweise an Smart-Home-Konzepte. Von daher darf man vor allem vor dem Hintergrund der in der EU favorisierten wirtschaftsliberalen Binnenmarktpolitik gespannt sein, wie das Handwerk dieser Entwicklung ordnungspolitisch entsprechen wird.

DHB: Ist das Handwerk auf all diese Entwicklungen vorbereitet?
Esser: Entscheidend dafür, dass das Handwerk in diesem Strukturwandel nicht zurückbleibt, sind die Betriebsinhaber oder die als Entscheider tätigen Präsidenten und Hauptgeschäftsführer in der Handwerksorganisation. Sie müssen Digitalisierung zur "Chefsache" machen und die richtigen Weichenstellungen für ihren Betrieb beziehungsweise für ihre Mitgliedsbetriebe vornehmen. Darüber hinaus kommt den Ausbildern, Lehrern und Prüfern eine besondere Bedeutung zu. Sie tragen dafür Sorge, dass neues Wissen in den Stoffwechsel des gesamten Handwerks eingespeist werden kann. Gelingt es nicht, das Ausbildungs- und Prüfungspersonal jetzt und zügig fit für diese Aufgabe zu machen, wird das Handwerk sowohl im Wettbewerb um Kunden wie auch um den Nachwuchs verlieren.

DHB: Sind die Berufsbilder zeitgemäß?
Esser: Viele Berufsbilder sind allein schon wegen ihren zukunftsoffenen Formulierungen zeitgemäß.

DHB: Das reicht also als Grundlage fürs Berufsmarketing?
Esser: Berufsbilder sind ordnungspolitische Grundlagen und keine Werbeinstrumente. Wir brauchen also zu unseren Ordnungsmitteln Marketinginstrumente, mit deren Hilfe wir Jugendlichen und jungen Erwachsenen veranschaulichen können, wie modern das Handwerk und seine Berufe im digitalen Zeitalter sind.

DHB: Junge Leute haben heute eine andere Einstellung zur Arbeitswelt!
Esser: Ja. Sie legen zum Beispiel neben guter Arbeit sehr viel mehr Wert auf Work-Life-Balance und fragen danach, wie viel Zeit die Arbeit ihnen lässt für ihre Freunde, ihre Familie oder ihre Hobbys. Handwerksbetriebe werden auch hierzu neue Antworten finden müssen, wollen sie im Wettbewerb um Nachwuchs mit Großbetrieben und auch Hochschulen nicht weiter verlieren.

DHB: Was kann ich Gewerken raten, die starke Nachwuchsprobleme haben?
Esser: Die Digitalisierung verändert nicht nur Prozesse und Produkte, sie verändert auch die Ansprüche der unterschiedlichen Player in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kunden erwarten weiterführende Leistungen auf dem modernsten Stand der Technik, genauso wie junge Leute bestimmte Erwartungen an eine moderne Berufsausbildung haben. Die Betriebe wiederum fordern von Schulabgängern eine den Anforderungen entsprechende Ausbildungsreife ein. Auch die Ansprüche der Betriebe an die Kammern, Kreishandwerkerschaften und Innungen wachsen zwangsläufig. Vor allem die Kleinbetriebe des Handwerks werden in Zukunft mehr denn je auf den bedarfsgerechten Support und maßgeschneiderte Dienstleistungen ihrer Organisationen angewiesen sein, um sich im Wettbewerb um Kunden und Nachwuchs behaupten zu können. Die herkömmliche Betriebs-, Technologie- und auch Ausbildungsberatung ist dafür auf den Prüfstand zu stellen. Mehr noch: Wir müssen Handwerk – zumindest in Teilen – neu denken!

Das Interview führten Stefan Buhren und Rüdiger Gottschalk; Foto: Monika Nonnenmacher

Text: / handwerksblatt.de

Das könnte Sie auch interessieren: