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Liège: Das Herz der Wallonie

Das belgische Lüttich überzeugt mit einem spannenden Mix aus hochmoderner Architektur sowie Bauwerken aus der Renaissance und lockt Touristenströme in die ehemalige Kohle- und Stahlregion.

Grelles Sonnenlicht durchflutet den Hauptbahnhof von Liège, zwischen Glas, Stahl und Beton bewundern wir außergewöhnliche Perspektiven mit ständig wechselnden Licht- und Schattenspielen. Nach dem Entwurf des katalanischen Architekten Santiago Calatrava erbaut und im September 2009 eröffnet, ist das nach allen Seiten offene Bauwerk eine handwerkliche Meisterleistung und das neue Wahrzeichen der einstigen Industriemetropole im Herzen der Wallonie, des französischsprachigen Teils Belgiens. Ein Wahrzeichen, das viel Pflege erfordert – für Gebäudereiniger eine Lebensaufgabe. Nicht nur Bahnfahrer, Köln liegt nur etwa eine Zugstunde entfernt, Paris zwei und London drei, finden Gefallen an den kirchenschiffartigen Bögen und Wellen. Denn Liegè, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, ist ein beliebtes Reiseziel.

Aufbruch in eine neue Zeit

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Der kühn geschwungene Hochgeschwindigkeits-Schienenknotenpunkt in dem in die Jahre gekommenen Stadtteil Guillemins steht dabei für den Aufbruch in eine neue Zeit. "Jetzt ist zwischen Bahnhofsvorplatz und gläsernem Finanzministerium ein postmoderner Gebäudekomplex mit Geschäften, Hotel, Büros und Privatwohnungen geplant", sagt unser Guide Jean-François Gilson, "ein neues Viertel entsteht."

Einst war die Stadt am Zusammenfluss von Ourthe und Maas Wiege der europäischen Kohle- und Stahlindustrie. Doch nach der Schließung der letzten Kohlegrube 1980 folgte der wirtschaftliche Niedergang. Davon zeugen noch heute verlassene Industriekomplexe, bewaldete Abraumhügel und renovierungsbedürftige, morbiden Charme ausstrahlende Gründerzeit-Häuser.

Und dennoch – die Maas-Metropole mit ihren rund 200 000 Einwohnern ist eine lebenslustige und vitale Universitäts- und Museumsstadt, in der Tradition und Moderne bisweilen surrealistisch vereint sind.  Heute steht Lüttich, so der deutsche Name der Geburtsstadt des legendären Schriftstellers und "Maigret"-Erfinders Georges Simenon, für kulturelle Vielfalt, ungewöhnliches Design und extravagante Mode.

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Auch wenn sich dem Betrachter der Reiz von Liège im Wechsel der Zeiten möglicherweise erst auf den zweiten Blick erschließt, es gibt vieles zu entdecken. Wie das Kunstzentrum "La Cité Miroir" am Place Xavier Neujean, das in einem ehemaligen Schwimmbad im Bauhausstil seine Heimat gefunden hat.

Genüsse für jeden Gaumen

Pulsierendes Altstadtleben erwartet uns rund um den Place du Marché mit seinen Restaurants und Bistros. Oder in der Handwerkerstraße "En Neuvice" mit typischen Renaissance-Häusern des 17. Jahrhunderts, in der inzwischen moderne Kunst verkauft wird.

Den besten Blick über die Stadt genießen wir von der alten Zitadelle, die wir über die 374 Stufen der "Montagne de Bueren" ("Bauerntreppe") erklimmen. Etwas atemlos blicken wir in blühende Gärten, verwinkelte Gassen und Innenhöfe, wunderbar ist die Aussicht auf die gotische St. Pauls-Kathedrale und die "Opéra Royal de Wallonie". Auf dem Rückweg besuchen wir Hutmacherin Delphine Quirin in der Rue Pierreuse. "Ich verdiene hier gut mein Brot", sagt sie bei der Präsentation ihrer Kreationen, "deshalb bin ich immer in Liegè geblieben."

Ebenfalls einen Stopp wert: das "Musée de la Vie Wallonne" in einem einstigen Minoritenkloster. Hier werden der vergangene Alltag der Region und die beinahe vergessenen Handwerkskünste der Kupferschmiede, Glasbläser und Waffenschmiede illustriert.

Unser Stadtrundgang macht hungrig. Zeit, das breit gefächerte kulinarische Angebot zu genießen. Ob preisgekrönte Buletten in der "Brasserie Saint Gregory" in der Férronstrée, typisch belgische Waffeln oder Fritten, süße Verführungen von Chocolatier Jean Galler, Hoflieferant des belgischen Königshauses, oder einfach nur eines der leckeren, stark alkoholhaltigen belgischen Biere wie das nachhaltig gebraute "Leopold 7": Liège hält für jeden Gaumen und Geldbeutel etwas bereit.  

Und wer nach einem langen Tag keine Ruhe findet, dem sei der Besuch von "Le Carré", das Amüsierviertel mit unzähligen Bars und Clubs, ans Herz gelegt. Aber Vorsicht, im lebenslustigen Liège wird gern bis zum Sonnenaufgang gefeiert!

Vier Lütticher Köpfe

Der Brauer

HandwerkNicolas Declercq studierte Chemie und ist einer der jüngsten Brauer Belgiens. Seit zwei Jahren stellt er mit zwei Geschäftspartnern das Bier "Leopold 7" her. Das Produkt der Mikrobrauerei in Marsinne, das in Declercqs Heimatstadt Lüttich gern getrunken wird, ist CO2-neutral und nachhaltig gebraut, d.h.Wiederverwendung von Abwasser, zu 98 Prozent Recycling-Verpackung, keine Etiketten und daher kein Klebstoff. Neben Europa sind Südafrika, Taiwan und USA die Hauptabsatzmärkte.

Die Hutmacherin

Delphine Quirin 2 julDelphine Quirin studierte zunächst Kunstgeschichte in Lüttich und machte danach eine Ausbildung als Hutmacherin. Die Designerin und Sammlerin klassischer Strickmaschinen wirkt seit 1996 als freischaffende Mödeschöpferin, kreiert Hüte und Accessoires im Retrolook. Dabei kombiniert die Lütticherin edle Stoffe, Mohair, Filz mit Leder und Vintage-Juwelen. Ihre zu 100 Prozent in Belgien gefertigten Kreationen werden auch in Paris, Japan, Russland und den USA geschätzt.

Die Grafiker

Katia und Bruno julGrafik für jedermann zu akzeptablen Preisen ist seit vielen Jahren das Erfolgsrezept des Künstler-Paars Katia Marchiori (36) und Bruno Le Boulengé (52). Während Katia die Akademie in Lüttich besuchte und mit Diplom in Kunst und Illustration abschloss, ist Bruno Autodidakt. Die beiden entwerfen täglich neue Grafiken, schwarzweiß und farbig auf Kunststoff, die direkt nach dem Trocknen ausgestellt werden. Die beiden bieten darüber hinaus in ihrem Atelier-Geschäft in der "En Neuvice" Individual- und Gruppenkurse an.

Der Wiederverwerter

Benjamin Pailhe 1 julDer gelernte Maler und bekennende Autodidakt Benjamin Pailhe (40, Foto) verbindet seit 15 Jahren in seinen Werken Design und Ethik. Paihle verfolgt dabei das Konzept des Upcyclings, er nutzt für seine Möbel, Lampen und Schmuck ausschließlich Restmaterialen, die aus der Region stammen. Seine Kreationen, die er mit 3D-Drucker, CNC-Fräse und Laser-Cutter herstellt, sind deshalb bezahlbar und aufgrund des kleinen Produktionsumfanges einzigartig.

Hotel-Tipp: Pentahotel
Das frisch renovierte 4-Sterne-Hotel "Pentahotel" liegt im historischen Stadtkern von Liège und bietet neben attraktivem Design einen hervorragenden Service. Gerade einmal zwei Kilometer von Bahnhof entfernt, stehen 105 großzügige Nichtraucherzimmer (mit WLAN, Schreibtisch, Safe und Klimaanlage) Restaurant, Bar und Salon zur Verfügung. Boulevard de la Sauvenière 100.

Restaurant-Tipp: Labo 4
Das in einem Garten gelegene ehemalige Laboratorium ist ein mysteriöser Ort, in der sich Gérard Miller der perfekten Reifung und Zubereitung von Fleisch widmet. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind ein Geschmackserlebnis, für das Nichtvegetarier schwärmen. Quai Edouard van Beneden 22.

In der Nähe: Abtei von Val-Dieu
Rund 25 Kilometer von Lüttich entfernt liegt die Brauerei der Abtei von Val-Dieu. Das Kloster blickt auf eine lange Brauereitradition zurück. Hinter den Mauern pflegt die christliche Gemeinschaft heute das Klosterleben im Sinne der Zisterzienser und braut echtes belgisches Abteibier: Grundlage bilden alte überlieferte Rezepte der Mönche und so wird hier unpasteurisiertes obergäriges Abteibier ohne Zusätze gebraut. Val-Dieu 227, 4880 Aubel.

Text und Fotos: © Jürgen Ulbrich

Text: / handwerksblatt.de

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