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Digitale Ausbildung der Gerüstbauer – (k)ein Ort für Experimente?

Mangelnder Wille zur Veränderung oder verantwortungsvoller Umgang mit der Ausbildung junger Menschen – am Distanzunterricht der Gerüstbauer-Azubis scheiden sich die Geister.

Für die Auszubildenden des Gerüstbauhandwerks gibt es in Deutschland nur drei Berufsschulen: in Berlin, Dortmund und Groß-Gerau. Junge Menschen, die nicht aus der näheren Umgebung dieser drei Standorte kommen, müssen weite Wege in Kauf nehmen, damit sie mit dem theoretischen Rüstzeug ausgestattet werden können und sich für den Blockunterricht in einem Internat einquartieren. Das macht die Ausbildung unattraktiv, meint Jeanette Spanier, Geschäftsführerin der Spanier & Bichler GmbH. Damit sich wieder mehr Interessenten aus dem ländlichen Raum für den Beruf entscheiden, schlägt die Gerüstbaumeisterin aus Longuich (Rheinland-Pfalz) vor, im Rahmen eines Pilotprojekts den Unterricht per Videokonferenz zu erproben. Der nächstgelegene Berufsschulstandort, aus dem übertragen werden könnte, ist Groß-Gerau.

"Angestaubte Strukturen"

Dort war Matthias Neurohr über 20 Jahre Lehrer. Vor knapp vier Jahren hat er den Entschluss gefasst, seinen Job als Abteilungsleiter für den Gerüstbau an den Nagel zu hängen. Der Grund, seine sichere und gut bezahlte Stelle als Beamter auf Lebenszeit zu kündigen: angestaubte Strukturen. "Zu einem modernen Unterrichtskonzept gehören auch digitale Formate, doch sowohl in der Ausbildung der Gesellen als auch der Meister ist man nicht willens, etwas zu verändern", erklärt der Diplom-Ingenieur. Seine Kritik trifft jedoch nicht nur die Schulen. Auch die Innungen, die Bundesinnung für das Gerüstbauer-Handwerk und die Soka Gerüstbau zeigen aus seiner Sicht wenig Interesse an einer Weiterentwicklung. Bestes Beispiel sei die Fortbildung zum Gerüstbautechniker, der von keiner der genannten Institutionen gefördert worden sei. "Die gesamte Branche ist leider äußerst konservativ."

Experten gründen Verein

Deshalb hat sich Matthias Neurohr selbst auf den Weg gemacht. Zunächst mit seiner eigenen Firma "das werkstück", die Planung, Beratung und Schulungen anbietet. Im Oktober ist der Verein Gerüstkompetenz Deutschland dazugekommen, den er zusammen mit einigen Experten gegründet hat. Er soll den Erstellern, Nutzern und Planern von Gerüsten als Plattform dienen und neueste Entwicklungen in Sachen Digitalisierung, Forschung, Gesundheitsschutz, Logistik und Baurecht vorantreiben. "Wir sehen uns nicht als Konkurrenz zu den Innungen oder zum Bundesverband, da wir auch die Architekten und Ingenieure ansprechen", versichert er. Nichtsdestotrotz will der Verein gerade dort Mitglieder aus dem Handwerk gewinnen, die aus Sicht von Matthias Neurohr bislang vom Informationsfluss abgeschnitten sind. Dazu gehören für ihn 2.400 der circa 3.000 bei der Soka Gerüstbau gelisteten Betriebe.

Digitale Schulungskonzepte erproben

Neue Technologien halten überall Einzug. Im Bausektor können Gebäude mit einer Drohne vermessen, Gerüste danach digital geplant werden. Solche Entwicklungen müssen sich für Matthias Neurohr auch in der Aus- und Fortbildung wiederfinden. Denn mit den Innovationen verändert sich auch ein Beruf. "Wir brauchen zwar immer noch den reinen Gerüstbauer, aber uns fehlen Leute, die die Logistik steuern und die digitale Planung übernehmen", ist er überzeugt. Um sich diese Inhalte anzueignen, müssten die künftigen Gesellen und Meister nicht mehr zwangsweise in die Schule kommen, sondern die Schule über den Distanzunterricht zu ihnen. Dazu bräuchte man digitale Schulungskonzepte, die im Rahmen von Pilotprojekten erprobt werden. "Wir müssen die Branche endlich dazu bringen, sich dieser modernen Welt zu stellen." Ein Vorstoß wie der von Jeanette Spanier könnte aus seiner Sicht ein Anfang sein. 

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"Außergewöhnlich gutes Modell"

Für Tom Nietiedt hat sich die Blockbeschulung mit Internatsunterbringung über die Jahre im Gerüstbauhandwerk insgesamt bewährt. Der geschäftsführender Gesellschafter der Nietiedt-Gruppe aus Wilhelmshaven bezeichnet das Modell als außergewöhnlich gut. "In den Berufsschulen und den überbetrieblichen Lehrwerkstätten haben wir eine ganz besondere Qualität." Die Nietiedt-Gruppe, die nach eigenen Angaben zu den Top Fünf der Branche gehört, bildet an allen Standorten des Unternehmen rund 20 Auszubildende aus. Sie werden in Dortmund und Weiterstadt beschult. 

Große Stücke hält Nietiedt vor allem auf das Ausbildungszentrum Hansemann im Dortmunder Stadtteil Mengede. "Dort gibt es eine eigene Gerüstbau-Halle, in der  verschiedene Gerüstsysteme vorgehalten und auch Industriekletterer ausgebildet werden." Ermöglicht werde dieser hohe Standard durch die Ausbildungsumlage, die alle Betriebe an die Sozialkasse (Soka) Gerüstbau zahlen. Die Soka achte auch auf die Qualität des Lehrbetriebs. Allerdings weiß er auch um die Probleme der Blockbeschulung. "Bei den dreiwöchigen Aufenthalten gibt es immer wieder mal einen Azubi, dem das Internatsleben nicht so bekommen und dort mit seinem sozialen Umfeld nicht klar gekommen ist."

Kosten und Nutzen abwägen

Tom Nietiedt ist offen für den Vorschlag von Jeanette Spanier, für die Ausbildung im ländlichen Raum den Distanzunterricht zu erproben. "Wenn man nichts ausprobiert, kann man auch keine neuen Erkenntnisse gewinnen", ist der Unternehmer aus Niedersachsen überzeugt. Gute Chancen sieht er vor allem bei der Vermittlung der theoretischen Inhalte der Berufsschule. Allerdings müsste man Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen. Würde man den Unterricht dezentralisieren, müsste aus einer Sicht in den Ländern massiv investiert werden. "Solche Strukturen bauen sich nicht von heute auf morgen auf und würden zudem das System der Umlagefinanzierung durch die Soka erheblich verändern."

Wandelbares Handwerk

Bislang habe er noch keine weiteren Stimmen aus der Branche gehört, die sich eine Distanzbeschulung wünschen. Kämen solche Impulse jedoch auch aus anderen Flächenländern, könnte er sich gut vorstellen, dass die Soka Gerüstbau dies aufgreift. Tom Nietiedt hält das Gerüstbauhandwerk für sehr wandelbar. In mühsamen Schritte habe man sich in den 1990er-Jahren zum Teilhandwerk, dann Anfang der 2000er zum Vollhandwerk mit Meisterpflicht entwickelt. "Das waren Quantensprünge. Warum sollte sich also nicht auch in der Beschulung etwas ändern? Allerdings ist dabei wichtig, dass die für unsere Azubis so wichtigen Belange der Lehrdidaktik, Sozialpädagogik und Betreuung ausreichende Berücksichtigung finden."

"Offene Diskussion"

"Die Möglichkeiten einer Fernbeschulung der Auszubildenden werden in den Fachgremien offen diskutiert", versichert die Bundesinnung für das Gerüstbauer-Handwerk. Gemeinsam mit den Fachleuten der Gerüstbauerausbildung erörtere man aktuell verschiedene Lösungsansätze. Im Fokus steht vor allem, in welchem Rahmen virtueller Unterricht möglich wäre und wie Pilotversuche zu realisieren sind. "Dabei beziehen wir die Erfahrungen aus den aktuellen Einschränkungen und den Einschränkungen der vergangenen Monate aufgrund der Corona-Pandemie mit ein."

Schulrechtliche Vorgaben

Beim Distanzunterricht seien mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Dazu zählen für die Bundesinnung etwa schulrechtliche Problemstellungen, "denn grundsätzlich gilt auch in der Berufsschule eine Präsenzpflicht". Der Berufsschulunterricht könne also nicht "einfach so" durch virtuellen Distanzunterricht ersetzt werden. Dies gelte grundsätzlich auch während der Corona-Krise. Ausnahmen seien nur unter engen Voraussetzungen möglich und müssten von den jeweils zuständigen Behörden genehmigt werden. Schulen, die bisher unabhängig davon zeitlich befristet Distanzunterricht einführen wollten, sei dies untersagt worden. Als Beispiel führt die Bundesinnung den "Solinger Weg" an.

Wachsende Leistungsunterschiede

Neben den formalrechtlichen Fragestellungen seien aber auch die Auswirkungen auf die Ausbildung der einzelnen Auszubildenden zu berücksichtigen. Im Gerüstbauer-Handwerk konnten während des ersten Lockdowns bereits Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt werden. "Auffällig war dabei, dass sich die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern durch den Distanzunterricht vergrößert haben", so die Bundesinnung.

Leistungsstarke Azubis seien über die Distanz hinweg gut im Lernstoff vorangekommen, die leistungsschwachen jedoch nicht. Dabei hätten die Lehrkräfte auch die Erfahrung gemacht, dass Hilfestellungen für unterstützungsbedürftige Schüler sich auf Distanz nicht genauso umsetzen ließen wie im Präsenzunterricht. Dabei spielten auch sprachliche Probleme eine Rolle, die im persönlichen Kontakt zwischen Lehrkraft und Schüler, aber auch zwischen den Schülern deutlich besser zu kompensieren seien. "Leistungsschwächere Schüler könnten also durch ein solches Modell benachteiligt werden", schlussfolgert die Bundesinnung. 

Nicht zu unterschätzen sei auch die Wichtigkeit der sozialen Kontakte und der Austausch der Schüler untereinander. Ebenso sei zu prüfen, inwieweit die technischen Voraussetzungen auf Seiten der Schüler, wie auch der Schulen gegeben sind und/oder geschaffen werden müssen. Hierbei sei auch der administrative Aspekt zu klären, um bei der großen Distanz bei auftretenden Problemen mit der Technik Hilfestellung leisten zu können, um stets die Unterrichtsteilnahme gewährleisten zu können.

Kein Ort für Experimente

Diese und weitere Aspekte und Überlegungen zur Einführung von Distanzunterricht gemeinsam mit den Fachleuten der Gerüstbauerausbildung zu bearbeiten und einzubeziehen, ist für die Bundesinnung des Gerüstbauer-Handwerks kein mangelnder Veränderungswille, sondern ein verantwortungsvoller Umgang mit der Ausbildung junger Menschen. "Denn für uns ist die Ausbildung kein Ort für Experimente und unausgereifte Schnellschüsse." Entsprechend könne und solle eine Festlegung zum Thema Distanzunterricht erst erfolgen, wenn der aktuelle Prozess der Erfahrungen im Rahmen der Corona-Pandemie beendet und mit den Fachleuten der Gerüstbauerausbildung abschließend erörtert worden sei. 

Text: / handwerksblatt.de

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