Menschen mit Rollstuhl müssen draußen bleiben. Experte Simon Kesting erklärt, wie Barrierefreiheit richtig geht. (Foto: © Simon Kesting)

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Barrieren abbauen – aber richtig!

Betriebsführung

Die Norm für barrierefreies Bauen zu kennen und über Fördermöglichkeiten Bescheid zu wissen, kann Betrieben Wettbewerbsvorteile bringen. Das sagen Experten dazu.

Ein WC, das nur von einer Seite mit dem Rollstuhl ansteuerbar ist, ein Empfang, dessen Tresen zu hoch ist für Rollstuhlfahrer, schlecht ausgeleuchtete Treppen mit nur einem Handlauf, Rampen, die zu steil oder vollgestellt sind – echte Barrierefreiheit sieht anders aus, weiß Simon Kesting. Dem gelernten Tischler und Inclusive Designer, der bundesweit als Experte und Berater für Barrierefreiheit tätig ist, begegnen solche Fehler so häufig, dass er in der Handwerkskammer Münster Vorträge dazu hält.

Viele Fehler entstünden, weil Planer und Handwerker sich an alte Vorgaben aus den 1990er Jahren hielten, sagt Kesting. "Seitdem gibt es neue Erkenntnisse, die ab 2010 in die neue Baunormenreihe DIN 18040 eingeflossen sind." Die Inhalte seien bei vielen Verantwortlichen offenbar noch nicht angekommen. Dabei ist die DIN 18040 seit 2019 verbindlich in allen deutschen Bauordnungen eingeführt.

Sensibilität für Barrierefreiheit fehlt

"Manchmal fehlt einfach die Sensibilität für das Thema." Die will Kesting mit seinem Vortrag wecken, weil viele Fehler seiner Meinung nach leicht und ohne Mehrkosten zu vermeiden wären. Im Fall des WCs etwa, indem man es ein wenig versetzt einbaut, um auf beiden Seiten genügend Platz zu lassen.

Momentan seien die Auftragsbücher der Handwerker gut gefüllt, sagt Kesting. Barrierefreiheit falle da oft hintenüber, dabei spreche vieles dafür, sich als Bauhandwerker damit auszukennen. Öffentlich zugängliche Gebäude – ob Rathaus, Museum, Schule oder Supermarkt – müssten grundsätzlich barrierefrei gebaut werden, und auch die Tourismusbranche lege Wert darauf, denn die Nachfrage bei deren Kunden sei groß. Außerdem würden Touristikunternehmen auf Barrierefreiheit geprüft und zertifiziert. Fielen sie wegen fehlerhafter (Um-)Baumaßnahmen durch, falle das nicht zuletzt auch auf die ausführenden Handwerker zurück. Ein Imageschaden, der sich vermeiden ließe.

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Auch mehr und mehr Privatkunden wollen Barrierefreiheit

Aber auch für Betriebe mit Privatkunden eröffne sich ein großer Markt. "Die Gesellschaft wird älter, und die Babyboomer wollen ihre Wohnungen altersgerecht umbauen lassen." Zunehmend seien aber auch Jüngere an barrierefreien Lösungen wie ebenerdigen Duschen oder bodentiefen Fenster interessiert, wenn das Ergebnis gut aussähe. "Man kann das schön machen, aber man muss sich damit beschäftigen", weiß der Experte

Die Küche von Tischlermeister Ludger Wienand ist so konzipiert, dass jeder sie komfortabel nutzen kann – egal, ob mit Handicap oder ohne. Leider ist nicht jeder (Bau-)Handwerker so fit im Thema Barrierefreiheit. Foto: © Ludger WienandDie Küche von Tischlermeister Ludger Wienand ist so konzipiert, dass jeder sie komfortabel nutzen kann – egal, ob mit Handicap oder ohne. Leider ist nicht jeder (Bau-)Handwerker so fit im Thema Barrierefreiheit. Foto: © Ludger Wienand

Eine Auffassung, die Tischlermeister Ludger Wienand teilt. Wie Simon Kesting hat er sich an der Akademie für Gestaltung der Kammer Münster zum Fachplaner für barrierefreies und komfortables Wohnen fortgebildet. Als Buchtipp: Dagmar Everding et al.: Handbuch Barrierefreies Bauen; 380 Seiten, Rudolf Müller Verlag, ISBN: 3481032862, 69 Euro. Das Buch kann im VH Buchshop bei Michael Sasse telefonisch unter 0211/ 39098-26 oder per E-Mail bestellt werden.Abschlussarbeit hat er eine barrierefreie Küche gebaut, mit höhenverstellbarem Kochfeld, unterfahrbarem Sockel und Klappen, die sich per Sensor öffnen lassen.

Anforderung: Schön und komfortabel – für alle Nutzer

Kunden führt er in seiner Tischlerei in Borken immer erst durch dieses Modell, auch wenn sie kein Handicap haben. "Die Küche ist schön und komfortabel und lässt sich auf die individuellen Anforderungen des Benutzers abstimmen", erklärt er. Sie folgt dem Prinzip des "Designs für Alle": Jeder Mensch soll sie benutzen können – mit oder ohne Handicap.

Leider gebe es nur in seltenen Fällen und für manche Küchenumbauten staatliche Förderungen, so Wienand. Bei Menschen mit Handicap übernehme dagegen oft die Kranken- oder Pflegekasse die Mehrkosten. Viele kämen gezielt zu ihm. Einer contergangeschädigten Frau hat er ihre "Traumküche" gebaut, wie sie ihm glücklich versichert hat. Dazu hat er sie befragt und ihr beim Kochen zugeschaut, um die Einrichtung auf ihre typischen Wege und Handgriffe in der Küche anzupassen. Ein Aufwand, der sich seiner Meinung nach lohnt – und das nicht nur, weil ihm die Dankbarkeit und Freude seiner Kunden viel bedeutet. Noch machen barrierefreie Einrichtungen zwar nur einen Bruchteil seines Umsatzes aus, aber Wienand ist sich sicher, dass sich das ändern wird: "Ich fühle mich als Pionier."

Förderung ist zu wenig bekannt

Thomas Venhorst, Fachplaner für Barrierefreiheit und Energieberater bei der Kreishandwerkerschaft Borken, vermutet, dass die Nachfrage nach barrierefreien Lösungen noch nicht so hoch ist, wie sie angesichts der demografischen Entwicklung sein sollte, weil viele Verbraucher nicht über die Förderungsmöglichkeiten Bescheid wüssten.

Häufiger werde er nach Zuschüssen zum Heizungsaustausch gefragt. Wenn er Kunden zur energetischen Sanierung berät, macht er deshalb auch auf Möglichkeiten zu mehr Barrierefreiheit aufmerksam. "Wer im Bad eine Fußbodenheizung verlegen lässt, kann dann auch rutschfeste Fliesen einbauen lassen. Das lässt sich gut kombinieren." Aber er warnt: Für ein und dieselbe Maßnahme können Auftraggeber entweder die Förderungen zur energetischen Sanierung oder die zur Barrierefreiheit in Anspruch nehmen, nicht beide.

Betriebe können mit Know-how und Service bei Kunden punkten

Venhorst erklärt seinen Kunden, welche Zuschüsse jeweils greifen, und stellt auch die Anträge, denn das kann ganz schön knifflig sein. Wichtig sei vor allem, den Antrag vor dem Umbau zu stellen, betont er. Ist sie von Anfang an mit geplant, muss Barrierefreiheit laut Venhorst nicht die Kosten treiben. Von der KfW gibt es bis zu 6.250 Euro Zuschuss pro Wohnung für entsprechende Baumaßnahmen sowie die Möglichkeit, einen Kredit über bis zu 50.000 Euro aufzunehmen, bei einem effektiven Jahreszins ab 0,78 Prozent. Sich damit auszukennen kann ihm zufolge für Handwerksbetriebe von Vorteil sein: "Betriebe brauchen Kunden nicht mehr mit den Preisen entgegenzukommen, weil dank der Förderung ohnehin Nachlässe von 15 bis 20 Prozent möglich sind." Und sprechen sich das Know-how und der Service rum, bringt das dem Betrieb weitere Wettbewerbsvorteile.

Veranstaltung: "Barrierefrei bauen von Bocholt bis Berlin – Die 10 häufigsten Fehler und wie man sie vermeidet": Simon Kesting, gelernter Tischler, Inclusive Designer (MSc), Experte und Dozent für Barrierefreiheit, zeigt in seinem Vortrag anhand von Beispielen wie Handwerksbetriebe klassische Fehler beim barrierefreien Um- und Neubau vermeiden können. Am 26. November, von 17 bis 19 Uhr, Handwerkskammer Münster in der Emscher-Lippe-Region, Gelsenkirchen und am 10. Dezember im HBZ Münster.

Förderung: Schwellen entfernen, Wände und Durchgänge versetzen, Küche und Bad umbauen, Terrassen und Balkone gestalten, Gemeinschaftsräume für Begegnungen schaffen und vieles mehr: Wer sein Haus oder seine Wohnung altersgerecht und/oder barrierefrei umgestalten will, kann das KfW-Programm "Altersgerecht Umbauen" nutzen und entweder einen Investitionszuschuss beantragen oder einen Kredit aufnehmen.

Text: / handwerksblatt.de

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