"Der Sozialstaat ist dringend renovierungsbedürftig"
Beim ZDH-Unternehmerforum sprachen Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer und Arbeitsminister Hubertus Heil über die Zukunftsfestigkeit des deutschen Sozialstaates.
Welche Veränderungen sind nötig, um den deutschen Sozialstaat zukunftsfest zu machen? Das war die zentrale Frage des Unternehmerforums des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer äußerte einige genaue Vorstellungen und begann mit den Lohnzusatzkosten, die für die Unternehmer im Handwerk ein wesentlicher Belastungsfaktor seien: "Mit einem Gesamt-Sozialversicherungsbeitrag von 40 Prozent liegen wir schon jetzt an der absoluten Schmerzgrenze." Bis zum Jahr 2040 drohe sogar ein Anstieg auf rund 50 Prozent. Die von der Bundesregierung im Rahmen ihrer "Sozialgarantie 2021" beschlossene Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent müsse daher dauerhaft über das Jahr 2021 hinaus gelten.
"Dauerhafte Beitragsstabilität sichert die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe, ermöglicht ihren Beschäftigten ein auskömmliches Einkommen mit mehr Netto vom Brutto, reduziert Schwarzarbeit, schafft Impulse für mehr Beschäftigung und trägt zur Generationengerechtigkeit bei", betonte der Handwerkspräsident. Das Handwerk erwarte dafür konkrete Lösungsvorschläge aller Parteien, die eine Regierungsbeteiligung in der kommenden Legislaturperiode anstreben. Wollseifer brachte Reformen im Bereich Altersvorsorge ins Spiel, um Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern. "Das kann nicht allein auf den Schultern unserer Arbeitnehmer und unserer Arbeitgeber lasten.“ Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sei nicht vermeidbar.
Bundeszuschuss für die Sozialversicherung gefordert
Für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung forderte der ZDH-Präsident angesichts der Kostensteigerungen und des demografischen Wandels nachhaltigere Strukturen. "Aus Arbeitgebersicht gehört hierzu die Einführung einer ergänzenden obligatorischen privaten Pflegevorsorge mit staatlicher Förderung der Arbeitnehmer." Wollseifer forderte außerdem einen dauerhaften Bundeszuschuss für alle Sozialversicherungszweige, der versicherungsfremde Leistungen in voller Höhe aus Steuermitteln finanziert. Viele Selbstständige seien nicht hinreichend sozial abgesichert. Das habe die Corona-Pandemie gezeigt. Hier könne eine allgemeine Altersvorsorgepflicht Altersarmut verhindern und vermeiden, dass die Beitrags- oder Steuerzahler die Kosten dafür tragen müssen.
"Wir können über die Zukunftsfestigkeit unseres Sozialstaates nicht diskutieren, ohne den Blick auf die Arbeit zu werfen, weil unsere sozialen Sicherungssysteme nicht allein, aber in einem sehr großen Maße über Sozialversicherung organisiert sind“, so die Antwort des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil (SPD). Deswegen gelte es, besonders in Krisenzeiten, aber auch danach, um jeden Arbeits- und Ausbildungsplatz zu kämpfen. Besonders die Fachkräftesicherung habe einen Einfluss auf die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates. Es dürfe keine Spaltung des Arbeitsmarktes geben mit einem Fachkräftemangel auf der einen und vielen Langzeitarbeitslosen auf der anderen Seite. Die Zahl der Letztgenannten sei in der Corona-Krise gestiegen, viele davon seien ohne abgeschlossene Berufsausbildung. "Wenn wir es zulassen, dass wir dieser Entwicklung auch noch Nachwuchs geben, destabilisieren wir auch die sozialen Sicherungssysteme."
Sorgen um die Tariftreue im Handwerk
Auch wichtig für den Sozialstaat sei der Arbeitsschutz. Hier müssten wegen des ansteigenden Tempos in der Arbeitsgesellschaft nicht nur körperliche, sondern auch psychische Erkrankungen in den Blick genommen und entsprechend Prävention betrieben werden. Ein dritter Punkt sei die faire Entwicklung von Löhnen in Deutschland – zum Beispiel in der Pflege. "Ich mache mir auch ein bisschen Sorgen um die Tariftreue im Handwerk. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir da ein Signal setzen müssen." Das könne eine tarifgebundene Vergabe von öffentlichen Aufträgen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sein, erklärte Heil. "Wir müssen wieder mehr zu sozialpartnerschaftlichen Lösungen kommen und nicht nur über den Mindestlohn reden."
Corona habe als Brandbeschleuniger für den Strukturwandel von Arbeit, Gesellschaft und sozialem Zusammenleben gewirkt. Digitalisierung, Klimaschutz und Demografie spielten dabei die Hauptrollen. "Der Wandel wird nicht nur im Handwerk, sondern in vielen Bereichen unserer Wirtschaft so dramatisch schnell in den nächsten Jahren, dass wir den Weg in eine Weiterbildungsrepublik gehen müssen." Trotz guter Ansätze gebe es in Deutschland unterdurchschnittliche Investitionen mit Blick auf Qualifizierung und Weiterbildung. "So wichtig die berufliche Erstausbildung, vor allem im dualen System, ist: Die Tätigkeitsanforderungen werde sich verändern, wir müssen für die Beschäftigungsfähigkeit vieler Menschen sorgen und Umschulungen ermöglichen." Das könne die Bundesagentur für Arbeit nicht alleine schaffen, es sei vornehmlich Unternehmeraufgabe, für Weiterbildung und Qualifizierung zu sorgen.
Zu viel Bürokratie
Der Minister sprach sich für flexiblere Übergänge in den Ruhestand aus. Anstatt das Renteneintrittsalter zu erhöhen, gehe es eher um die Beschäftigungsfähigkeit älterer Menschen. "Darum müssen wir uns kümmern, damit zumindest erst einmal das gesetzliche Renteneintrittsalter wirklich erreicht wird und nicht nur auf dem Papier steht." In Bezug auf Kranken- und Pflegeversicherung sei es fahrlässig, "einfach nur nach Geld des Finanzministers zu rufen und sich nicht um Strukturreformen bei Gesundheit und Pflege zu kümmern". Heil stimmte zu, dass über die Effektivität und Effizienz der Krankenversicherung zu reden sei. Für die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige gebe es einen fertigen Gesetzentwurf. Es sei aber die Frage, ob das isoliert zu betreiben sei, wo doch für Selbstständige noch viele andere soziale Risiken bestünden.
Der deutsche Sozialstaat sei besser als die meisten auf der Welt, aber er sei für die Zukunftsfestigkeit dringend renovierungsbedürftig. Er sei auf der einen Seite zu nachsorgend: "Wir sind mit sehr viel Geld des Staates und der Sozialversicherung am Start, wenn Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit sind, wenn junge Leute die Ausbildung verpasst haben." Deswegen müsse der Sozialstaat "früher, vorbeugender und sozialinvestiver" tätig sein. Andererseits sei er "in vielerlei Hinsicht zu bürokratisch". Die Digitalisierung etwa der Sozialverwaltung beinhalte riesige Potenziale hinsichtlich Zufriedenheit, Effizienz und Effektivität. Allerdings stehe Deutschland hier erst ganz am Anfang.
Text:
Lars Otten /
handwerksblatt.de
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