"In der Tat radikalisieren sich aktuell verschiedene Milieus an den gesellschaftlichen Rändern, und die Beschimpfungen und Gewaltandrohungen habe in den letzten Jahren extrem zugenommen", sagt Jacques Tilly

"In der Tat radikalisieren sich aktuell verschiedene Milieus an den gesellschaftlichen Rändern, und die Beschimpfungen und Gewaltandrohungen habe in den letzten Jahren extrem zugenommen", sagt Jacques Tilly

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Jacques Tilly: Lebenslänglich Karneval

Ein Hoch auf die Narrenfreiheit. Wenn in wenigen Tagen der Straßenkarneval beginnt, zeigt Jacques Tilly erneut, wie seine politischen Botschaften aus Maschendraht, Drahtschere und Grips die Gemüter erregen.

DHB: Seit über dreißig Jahren sorgen Sie mit ihren satirischen Mottowagen beim Düsseldorfer Karneval inzwischen weltweit für Aufmerksamkeit und ernten viel Applaus. Wie sind Sie Sie eigentlich beim Wagenbau und dem Düsseldorfer Karneval gelandet?
Tilly:
Das war reiner Zufall. Ein Schulfreund von mir, der eng mit der Düsseldorfer Künstlerszene verbunden war, hatte den Auftrag, einen eigenen Mottowagen zu bauen. Er hat mich dann zu Hilfe geholt, weil er wusste, dass ich ein Händchen für so etwas habe. Und da ich 1983 gerade meinen Zivildienst beendet hatte und mein Kommunikationsdesignstudium noch nicht begonnen hat, hatte ich Zeit für die Wagenbauhalle. Im darauffolgenden Jahr habe ich dann meine ersten eigenen Wagen gebaut. Aber dass ich "lebenslänglich" Karneval bekomme, hätte ich damals nicht für möglich gehalten

DHB: Welchen Bezug haben Sie selbst zum Handwerk? Gibt es Handwerker in der Familie?
Tilly:
Mein Vater ist Ingenieur mit einem hervorragenden technischen und handwerklichen Verständnis, er hilft auch noch heute beim Wagenbau mit, wenn ich bei kniffligen technischen Problemen nicht weiterweiß. Einer meiner Brüder ist Zahntechniker, ein anderer Bruder Rahmenbauer und Fotograf. Doch da meine Mutter Künstlerin war, habe ich meine Neigung zum kreativen Gestalten wohl von ihr geerbt. So bin ich in beiden "Welten" zuhause. Das hilft in meinem Job natürlich sehr.


DHB: Am Rosenmontag bleiben die Mottowagen bis kurz vor Start des Zuges verdeckt. Die Narren warten daher mit Spannung auf die jeweils zwölf Wagen aus der Werkstatt von Jaques Tilly. Haben Sie manchmal Angst, dass Ihnen irgendwann die Ideen ausgehen könnten?
Tilly: Die Ideen kommen nicht von selbst, das ist wirklich harte Arbeit,. Mitunter grüble ich tagelang über einem einzigen Thema. Ich muss zuerst sehr viele allzu durchschnittliche Möglichkeiten verwerfen, bis endlich mal eine zündende Idee entsteht, das ist ein quälender Prozess. Und in der Tat sind die Ausdrucksmöglichkeiten beim Mottowagenbau beschränkt, da muss man schon aufpassen, dass sich die Bilder oder Bildformen nicht ständig wiederholen. Doch jedes Jahr ist die politische Szene völlig anders, deshalb werden mir die Themen und damit auch die Ideen nie ausgehen, denke ich. Oder besser: hoffe ich.

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DHB: Ob Angela Merkel als Männer verspeisende schwarze Witwe, Donald Trump, der mit der amerikanischen Freiheitsstatur nicht gerade seriös umgeht oder der politischen Verschiebung nach rechts hier wie in anderen Ländern: auf der ganzen Welt ist kein Politiker sicher vor ihren Karikaturen aus Maschendraht und Knochenleim. Wie wichtig ist es für Sie, in bester karnevalistischer Tradition Ihre Meinung zu äußern?
Tilly: Die Institution der Narrenfreiheit ist ja erfunden worden, damit der Narr einmal im Jahr "denen da oben" ungestraft die Meinung geigen kann. Im Obrigkeitsstaat der Vergangenheit mit all der Unterdrückung und Zensur war das bestimmt nötiger als heute. Doch solange es auch in unserer Gesellschaft Fehlentwicklungen und Machtmissbrauch gibt, solange hat die Idee der Narrenfreiheit nicht ausgedient. Im Gegenteil, gerade in unseren Zeiten, in denen nationalistische und autoritäre Politik wieder fröhliche Urstände feiert, ist es wichtig, dass sich auch im Karneval eine entschiedene zivilgesellschaftliche und freiheitliche Gegenstimme Gehör verschafft.

DHB: Sie reagieren bis zur letzten Minute auf aktuelle politische Geschehen. Was war bislang die kürzeste Umbauphase vor einem Rosenmontagszug? Und um welches Thema ging es dabei?
Tilly: Sehr knapp war es 2014, als Putin zu Altweiber, also wenige Tage vor Rosenmontag auf der Krim einmarschiert ist. Da musste natürlich noch schnell ein aktueller Wagen her. Sehr knapp war es auch beim Wulf-Rücktritt 2012, der sich auch wenige Tage vor dem Zoch ereignete. Und erst um 21 Uhr am Sonntag vor Rosenmontag sickerte durch, dass Joachim Gauck wohl der neue Bundespräsident werden würde. Dann haben wir noch in den Nachtstunden vor Rosenmontag eine Extraschicht eingelegt, damit Gauck noch mitfahren konnte.

DHB: Für ihre Großplastiken mit den frechen Sprüchen erhalten Sie nicht nur Anerkennung. Oftmals erhalten Sie sogar Drohungen. Welche waren besonders heftig und wie reagieren Sie darauf?
Tilly: In der Tat radikalisieren sich aktuell verschiedene Milieus an den gesellschaftlichen Rändern, und die Beschimpfungen und Gewaltandrohungen habe in den letzten Jahren extrem zugenommen. Aber mir ist das ziemlich egal, ich muss meine Arbeit machen. Ein Satiriker, der von allen geliebt werden will, macht seine Arbeit nicht richtig. Es gibt halt in vielen Berufen ein gewisses Berufsrisiko. Und ich bin in großer Anhänger der demokratischen Streitkultur. Jeder Mensch, jede Institution, jede Weltanschauungsgemeinschaft, die ihre Sichtweise in einer pluralistischen Gesellschaft zu Markte trägt, muss es sich gefallen lassen, mit den Mitteln der Satire in Grund und Boden kritisiert zu werden. Das muss man aushalten können, das ist eine Zivilisationsleistung. Und da haben manche einfach noch ihre Defizite. Damit muss ich leben.

DHB: Gab es einmal Gedanken, den Wagenbau zu beenden? Und wie steht Ihre Familie dazu?
Tilly: Die Arbeit macht, auch nach all diesen Jahrzehnten, viel zu großen Spaß als das ich sie je an den Nagel hätte hängen wollen. Das Verhältnis zu den Karnevalisten und den Entscheidern im Comitee Düsseldorfer Carneval ist hervorragend, da gibt es nur Zuspruch und Rückenwind. Warum sollte ich das aufgeben? Solange man mich noch will und ich meine Drahtschere halten kann, solange will ich auch Wagen bauen. Und meine Familie hat schon lange akzeptiert, dass ich ein Workoholic bin. Die kennen es nicht anders.

DHB: Gerade ist ein Buch mit dem Titel Despoten. Demagogen. Diktatoren ein satirisches Bilderbuch herausgekommen. Worum geht es da?
Tilly: In diesem Buch geht es fast ausschließlich um die rechtspopulistische Revolte, die seit einigen Jahren um den Globus rast und ein Land nach dem anderen infiziert. Die liberale Demokratie, der bürgerliche Verfassungsstaat mit seiner Gewaltenteilung ist in die Defensive geraten wird durch ein neues totalitäres und autoritäres Politikverständnis bedroht. Die Wähler nicht nur des Westens sind verrückt geworden und währen irre Despoten und verantwortungslose Demagogen in höchste Ämter. Und in dem neuen Bildband repräsentiert meinen humoristisch gefärbten Widerstand gegen diese unselige Entwicklung.

DHB: In wenigen Tagen beginnt die fünfte Jahreszeit. Was ist jetzt noch alles zu tun?
Tilly: Mein Team und ich bauen bis zum Schluss an den politischen Wagen. Im Moment sind erst zwei von 12 Wagen fertiggestellt, sechs sind noch in Arbeit und vier Wagen sind noch völlig offen. Aktualität ist oberstes Gebot, auch wenn das viel Zeitdruck und Stress bedeutet. 

DHB: Auf wieviel Stunden Schlaf kommen Sie zurzeit?
Tilly: Ich achte immer darauf, ausreichend zu schlafen. Wenn ich müde bin, bin ich absolut unkreativ, dann herrscht Funkstille im Hirn. Das kann ich mir momentan einfach nicht erlauben. In der Ruhe liegt die Kraft.

DHB: Wie viele kreative Köpfe gehören zu ihrem Team? Sind Handwerker darunter und wenn ja, was ist ihr Job und welche Ausbildung bzw. Hintergründe haben diese Teammitglieder?
Tilly: Meine MitarbeiterInnen und TeamkollegInnen – im Moment über ein Dutzend - haben alle möglichen Ausbildungen absolviert. Mit dabei sind Schreiner, Gestaltungstechniker, freie Künstler, Kommunikationsdesigner, Illustratoren, alles querbeet. Wichtig sind aber neben der künstlerischen Begabung vor allem Teamfähigkeit und auch der Wille und die Fähigkeit, auch unter großem Zeitdruck noch hochwertige Leistung zu bringen. Gerade daran scheitern viele.

DHB: Ich dachte, Sie wären früher auch in Köln tätig gewesen. Weder auf Ihrer Homepage noch auf Wikipedia taucht der Name des rheinischen Konkurrenten der Landeshauptstadt aber auf...
Tilly: Nein, für den Kölner Rosenmontagszug habe ich noch nie gearbeitet. Ich bin gebürtiger Düsseldorfer und stehe treu zu meiner Heimatstadt. In Köln hätte ich die Freiheiten nicht, die ich hier genießen darf. Allein die Geheimhaltung, die nur im Düsseldorfer Rosenmontagszug gilt, schützt mich vor schädlicher Einflussnahme und garantiert wirkliche Narrenfreiheit. Das will ich nicht missen.

DHB: Nach dem Rosenmontagszug werden die Plastiken leider rasch zerstört. Tut Ihnen das manchmal leid. Behalten Sie auch schon mal Figuren und was machen Sie dann damit.
Tilly: In der Tat werden alle Figuren direkt am Veilchendienstag zerstört. Aber mehrere Wagen sind direkt nach Rosenmontag in die jeweils "betroffenen" Länder exportiert worden, etwa nach Tschechien, nach Polen oder Großbritannien. Dort fahren sie noch heute und ärgern die Regierung vor Ort. Ich finde es sehr motivierend, wenn die Wagen nicht nur Rosenmontag, sondern weit darüber hinaus im Ausland noch weiterhin Wirkung entfalten. Besser kann es doch gar nicht laufen.

DHB: Und was passiert nach Karneval? Ausruhen und auf den Start in die nächste närrische Session warten?
Tilly: Meist verbringe ich viele Tage mit der Auswertung der Wirkung in den Medien. 2017 waren die Wagen 1500 Mal in der Online-Weltpresse abgebildet, das muss erst einmal gesichtet und sortiert werden. Und nach Ostern geht’s dann wieder los für die nächste Session. So ist mein Jahresrhythmus, seit vielen Jahrzehnten.

DHB: Wenn die neue Bauphase beginnt, worauf freuen Sie sich am meisten?
Tilly: Ganz klar auf die neue Mottowagenproduktion, das ist doch das Salz in der närrischen Suppe. Aber die bauen wir ja erst immer am Ende der jeweiligen Bauzeit in den fünf oder sechs Wochen vor Rosenmontag. Die meiste Arbeit machen ja die Gesellschaftswagen, die Prunkwagen und die Werbewagen. Aber auch das macht viel Freude. Es ist schon ein sehr erfüllter Beruf, den ich mich da selbst gezimmert habe.

DHB: Können Sie zum Schluss unseren Lesern noch etwas über die diesjährigen Mottowagen verraten?
Tilly: Wie immer hülle ich mich auch diesmal in Schweigen. Erst Rosenmontag wird das Geheimnis gelüftet. Das erhöht die Spannung und gibt uns große Freiheiten. Als wir noch in den 90er Jahren unsere Wagen und Entwürfe vor Rosenmontag gezeigt hatten, gab es immer wieder Protestwellen, Klageandrohungen, einstweilige Verfügungen und erzwungene Umbauten. Jetzt aber kann mein Chef, der Rosenmontagzugleiter Hermann Schmitz sagen: "Beschwerden werden erst nach Aschermittwoch entgegengekommen."

Workshop
Der Düsseldorfer Künstler Jacques Tilly lehrt im „Wochenendworkshop Figurenbau“ die Kunst, Figuren und Karnevals­wagen zu bauen. Gezeigt wird der gesamte Bauprozess, vom Entwurf bis zum letzten Pinselstrich. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die bildhauerische Arbeit mit dem verzinkten ­Maschendraht. 18. bis 19. Mai, Kosten:360 Euro.Weiter Infos unter grossplastiken.

Foto: © Alibri VerlagIn dem neuen Buch von Jacques Tilly geht es um die rechtspopulistische Revolte, die seit Jahren um den Globus rast und ein Land nach dem anderen infiziert. Der Autor sieht die liberale Demokratie in Gefahr. Wähler nicht nur im Westen wählen irre Despoten und verantwortungslose Demagogen in höchste Ämter. Mit dem neuen Bildband repräsentiert der Wagenbaumeister seinen humoristisch gefärbten Widerstand gegen diese unselige Entwicklung.

Jacques Tilly
Despoten.Demagogen.Diktatoren
Ein satirisches Bilderbuch
Alibri Verlag, 120 Seiten,15 Euro

Text: / handwerksblatt.de

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