Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, mahnt Veränderungsbedarf im Gesundheitswesen an.

Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, mahnt Veränderungsbedarf im Gesundheitswesen an. (Foto: © Thorsten Schmidtkord)

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"Es darf nicht auf Kosten der Versicherten gespart werden"

Interview: Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, über die Finanzierung und die Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Gesetzliche Krankenversicherung steht vor wichtigen, strukturellen Veränderungen, weil das Finanzierungssystem nicht auf sicheren Füßen steht. Frank Hippler, Chef der IKK classic, analysiert im DHB-Interview, wie es um die GKV bestellt ist, welche Lösungen er von der Politik fordert und wie sich das System, aber auch die IKK, zukünftig aufstellten sollte.

DHB: Für 2023 sagen Experten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein Minus von 17 Milliarden Euro voraus – keine rosige Zukunft, oder?
Hippler:
Die Zahl rührt daher, dass die GKV jedes Jahr einen Steuerzuschuss von 14,5 Milliarden Euro bekommt, der nicht zuletzt wegen der Pandemie im vergangenen Jahr auf 28,5 Milliarden Euro aufgestockt wurde. 2023 sollen erst mal nur wieder 14,5 Milliarden fließen, 14 Milliarden fehlen also definitiv. Durch die jährlichen Kostensteigerungen bei den Gesundheitsausgaben kommen nach aktuellen Schätzungen noch einmal mindestens drei Milliarden Euro hinzu. Wird dieses Minus auf den Beitragszahler abgewälzt, steigt der Beitrag in der GKV um einen vollen Prozentpunkt.

DHB: Dabei haben wir noch nicht einmal von der Pflegeversicherung gesprochen ...
Hippler:
... von der wir wissen, dass auch sie in diesem Jahr noch nicht auskömmlich finanziert ist. Probleme haben wir auch bei der Rente, die nur mit staatlichen Zuschüssen funktioniert. Ziehen wir noch die Arbeitslosenversicherung mit ins Kalkül, ist es nicht verwunderlich, dass Prognosen für 2030 von Beitragssätzen zwischen 43 und 45 Prozent sprechen, wenn nicht massiv gegengesteuert wird.

DHB: Sie rufen also nach weiteren Steuerzuschüssen?

Hippler:
Bezogen auf die Krankenversicherung ja, aber nur übergangsweise. Denn sonst hängt die GKV am Tropf des Finanzministers, und es besteht die Gefahr, dass am Ende eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage des Bundes gemacht wird. Langfristig müssen wir an die Ausgaben heran, was aber nicht so schnell geht. Kürzungen bei den Leistungen könnte man schneller realisieren, aber das hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach kategorisch ausgeschlossen. Dieser Weg ist auch aus unserer Sicht keine Option, da dies nicht im Sinne der Versicherten ist.

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DHB: Also müssen Sie an die Strukturen im Gesundheitssystem ran?

Hippler:
Ja, gerade im Bereich der Krankenhausstrukturen haben wir großen Veränderungsbedarf, wobei es sich nicht um Maßnahmen handelt, die sich heute beschließen und morgen erledigen lassen. Etwa bei der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Die beiden Sektoren sind heute noch sehr unterschiedlich organisiert. Da gibt es Spielraum: Ein Gutachten des IGES-Instituts, das für das Gesundheitswesen unabhängige Gutachten erstellt, kam zu dem Schluss, dass 2.500 Operationen und Therapien auch genauso gut ambulant statt stationär durchgeführt werden könnten. Das klingt zwar erst einmal gut, aber wenn wir nicht die Vergütungsfrage klären, passiert nichts.

DHB: Weil stationäre und ambulante Eingriffe unterschiedlich vergütet werden.
Hippler:
Richtig, Sie müssen einen Ausgleich zwischen der "Diagnosis Related Groups, DRG", dem Vergütungssystem der Krankenhäuser nach "Diagnosebezogenen Fallgruppen", und dem der Kassenärzte auf Basis des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) schaffen. Nur wenn der stationäre Eingriff nicht besser als der ambulante Eingriff vergütet wird, schaffen wir es, die Sektorengrenze zu überwinden. Dann ist es egal, ob ein Eingriff ambulant in der Praxis oder stationär im Krankenhaus durchgeführt wird, vorausgesetzt, die Diagnose lässt es zu.

DHB: Es liegt nahe, dass die Krankenhäuser sagen werden, zum Preis der ambulanten Vergütung machen wir es nicht.
Hippler:
Deshalb spricht man – und das steht im Koalitionsvertrag – von den Hybrid-DRGs, eine Vergütung, die zwischen stationären und ambulanten Sätzen liegt. Wichtig ist, dass am Ende nicht das wirtschaftliche Interesse darüber entscheidet, wo operiert wird, sondern dass der Versicherte, der Patient im Mittelpunkt steht.

DHB: Das klingt nach Wunschdenken, vor allem, wenn hinter Kliniken und neuerdings auch Arztpraxen Investorengruppen stehen.
Hippler:
Investoren im stationären Bereich haben immerhin dafür gesorgt, dass viele Krankenhäuser wesentlich effizienter arbeiten als in der Vergangenheit. Staatsnahe Organisationen sind nicht unbedingt die, die am effizientesten und effektivsten arbeiten. Natürlich muss man aufpassen, dass das wirtschaftliche Interesse am Ende nicht so hoch ist, dass auf Kosten der Patienten gespart wird. Es gibt auch schon erste Gutachten, dass gerade bei den investorengetriebenen MVZs, den medizinischen Versorgungszentren, deutlich mehr Leistungen produziert und damit auch mehr abgerechnet werden als niedergelassenen Praxen.

DHB: Liegt das an einer effizienteren Organisation?
Hippler:
Zum einen ist es gutes Praxismanagement, zum anderen schwingt die Sorge um eine Übertherapie mit. Den Effekt kennen wir auch in der privaten Krankenversicherung ...

DHB: ... wenn die Patienten unnötige Leistungen bezahlen müssen.

Hippler:
Genau, da ist der medizinische Nutzen oft fragwürdig, aber wenn der Arzt im Vier-Augen-Gespräch dem Patienten rät, dass er es machen würde, liegt die Entscheidung auf der Hand. Das lässt sich nie pauschal beurteilen, schließlich gibt es den ärztlichen Ethos.

DHB: Einsparpotenziale gibt es sicherlich auch bei den Medikamenten.
Hippler:
Da gibt es schon bestimmte Deckelungen hinsichtlich der Verschreibungspraxis mit Sanktionen, wenn Ärzte überproportional verschreiben. Das größere Problem ist die Preisbildung bei Medikamenten, die neu auf den Markt kommen. Der Preis wird erst mit zwölfmonatiger Verzögerung zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Pharmaindustrie verhandelt, vorher ist die Preisbildung völlig frei. Dann wird in der Regel ein niedrigerer Preis festgesetzt, der aber nicht rückwirkend gilt, sondern erst zukünftig.

DHB: Was die Industrie vermutlich mit Mondpreisen ausnutzt.

Hippler:
Es gibt Beispiele dafür, ja. Deutschland ist für die Arzneimittelindustrie im internationalen Vergleich ein attraktiver Standort. Stellschrauben für Einsparungen gibt es schon. Die erste Möglichkeit, die Mehrwertsteuer von 19 auf sieben Prozent zu senken, ist in der Versenkung verschwunden. Das hätte der GKV fünf Milliarden Euro gebracht. Aber auch bei den Beiträgen müssen wir schauen, wer diese bezahlt. Die GKV funktioniert nach dem Solidarprinzip. Das ist auch richtig. Für den Personenkreis der Arbeitslosengeld-II-Empfänger (ALG-II-Empfänger), bekommen wir seit Jahren keine ausreichenden Beiträge, diese Beiträge bezahlt der Staat. Aus dem ursprünglich im Koalitionsvertrag vorgesehenen "vollen Ausgleich" ist final nur eine "Anpassung" geworden – ohne konkrete Höhe. Und wir reden hier über eine jährliche Unterdeckung von zehn bis elf Milliarden Euro.

DHB: Sehen Sie Chancen für eine größere Anpassung?

Hippler:
Es wird auf jeden Fall nicht einfach, wobei uns die Zeit wegläuft. Mit der Haushaltsplanung 2023 geht es allmählich los. Aber wenn man nicht weiß, welche Mittel man zur Verfügung hat, wird es schwierig. Seit gestern (Anm. der Red.: 2. Mai) ist die Expertenkommission für die Strukturveränderung bei den Krankenhäusern benannt. Nur: Darin sind 16 Personen aus der Wissenschaft und 7 aus leitenden Funktionen von Krankenhäusern – aber keiner von der GKV. Die, die es zahlen, sitzen am Katzentisch und sollen erst ins konkrete Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden. Im Krankenhausbereich kennen wir die Probleme, Erkenntnisgewinn ist nicht das Thema, wir haben ein Umsetzungsdefizit. Wir brauchen die Veränderung: Der Krankenhaussektor ist teuer, und zu Recht wird immer beklagt, dass die Pflegekräfte überproportional beansprucht werden. Zu viele Krankenhäuser haben zum Teil zu kleine Abteilungen, da ist es logisch, dass Personal fehlt. Zudem machen zu viele Krankenhäuser, die nicht dafür ausgelegt sind, Operationen, die sie besser nicht machen würden. Immerhin erkennen die Krankenhäuser den Veränderungsbedarf.

ZITAT "Erkenntnisgewinn ist 
nicht das Thema, wir haben ein Umsetzungsdefizit.
 Wir brauchen die Veränderung: Der Krankenhaussektor
 ist teuer, und zu Recht
 wird immer beklagt,
 dass die Pflegekräfte überproportional beansprucht werden." Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic

DHB: Wo sehen Sie denn die GKV in fünf Jahren?

Hippler:
Ich hoffe, dass es uns jetzt gelingt, die Krankenhauslandschaft zu verändern. Weniger Hoffnung habe ich beim Veränderungsbedarf unseres Finanzierungssystems. Wir brauchen definitiv neben dem reinen Lohnbezug, der vor allem die personalintensiven Branchen überproportional belastet, auch andere Finanzierungsquellen.

DHB: Und die Digitalisierung hilft nicht?
Hippler:
Doch, sie wird uns in der GKV nach vorne bringen. Das sind das eRezept, die eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) oder die elektronische Patientenakte.

DHB: Steht dem nicht der Datenschutz vor?
Hippler:
Ja, aber Datenschutz sollte nicht über dem Gesundheitsschutz stehen. Aber selbst anonymisierte Daten helfen, etwa weil sich aufgrund aggregierter Daten vieler Krankheitsverläufe Prognosen ganz anders treffen lassen. Sie können Therapien auf ihren Erfolg hin untersuchen, die Wissenschaft könnte Schlüsse für Behandlungsverfahren ziehen, was bis heute überhaupt nicht genutzt wird. Ich glaube, dass es unglaublich viele Möglichkeiten gibt.

DHB: Wie ist es um die medizinische Versorgung der Ukraine-Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, bestellt?

Hippler:
Bis zum 1. Juni sind noch die Kommunen in der Verantwortung. Sie können – das Modell stammt aus der Flüchtlingswelle 2015 – mit den Krankenkassen vereinbaren, dass die Flüchtlinge mit einer KV-Karte ausgestattet werden. Dazu haben wir in allen Kernregionen entsprechende Regelungen. Anschließend konnten die Behandlungskosten mit der Kommune abgerechnet werden. Das war damals aber ein Optionsmodell und wurde leider nicht flächendeckend umgesetzt. Die Alternative, mit einem Berechtigungsschein vom Sozialamt zum Arzt zu gehen, war auch keine besonders gute Regelung. Ab 1. Juni werden alle aus der Ukraine geflüchteten Menschen über die gesetzliche Krankenkasse versichert und sie haben einen vergleichbaren Status wie ALG-II-Empfänger ...

DHB: ... womit die Kosten nicht vollständig übernommen werden.

Hippler:
Genau, das ohnehin schon große Problem wird noch vergrößert, aber wir halten den Weg für richtig. Die Menschen, die jetzt kommen, sollen natürlich eine gute Gesundheitsversorgung bekommen, idealerweise auch mit der KV-Karte. Aus unserer Sicht macht sich der Staat finanziell wieder einen schlanken Fuß. Auch hier bekommen die Krankenkassen keine ausreichende Finanzierung von Staat.

DHB: Wie hat die Pandemie, aber auch die Digitalisierung die IKK classic verändert?
Hippler:
Die Digitalisierung hilft uns, noch stärker den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen. Wir sind innerhalb des Unternehmens dabei, Veränderungen herbeizuführen. Unsere Geschäftsstellen, unsere Servicecenter vor Ort bleiben alle erhalten, werden sich aber noch stärker auf die Kundenanliegen konzentriert. Sie sollen sich als Kundenberaterin, als Kundencoach auf die komplizierteren Anliegen der Kunden konzentrieren und diese im persönlichen Gespräch beraten und verstärken die digitale Schiene.

DHB: Wollen das die Kunden?
Hippler:
Für uns gilt: Der Kunde entscheidet, wie er uns kontaktieren will. Wir merken, dass das "persönliche Aufsuchen" weniger geworden ist. Kunden kommen weniger wegen Standardfragen, sondern wenn sie wirklich ein Vier-Augen-Gespräch brauchen. Es ändert sich der Anlass und die Frequenz. Ansonsten merken wir, dass die Einschreibe-Quoten in der Online-Filiale ständig steigen, und wir erweitern unser technisches Service-Angebot ständig.

DHB: Die Digitalisierung hilft also, Standardprozesse zu automatisieren, so dass mehr Zeit für die wirklich komplexen Fälle bleibt?
Hippler:
Ja, genau. Weil die gesamten Prozesse digitaler werden, bringt das auch intern Veränderungen. Was heute noch papiermäßig bearbeitet wird, unterliegt zukünftig der Technisierung oder Automatisierung. Vor dieser Herausforderung stehen viele Branchen – und das fordert massiven Umbau. Mittlerweile wird bei uns jede zweite Arbeitsstunde aus dem Homeoffice geleistet, das war vor zwei Jahren unvorstellbar. Das hat viele gute Seiten, man muss aber darauf achten, dass die Identifikation mit dem Unternehmen nicht untergeht oder das soziale Gefüge auseinanderbricht. Wir wollen aber auch ganz bewusst die Möglichkeit des flexiblen, mobilen Arbeitens erhalten.

Die Fragen stellte Stefan Buhren.

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Text: / handwerksblatt.de

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