Der Bahnhof Gau-Odernheim wurde 1896 eröffnet. Da von hier aus die Züge abfuhren, lebten viele Bahnbedienstete gegenüber in Wohnhäusern.

Der Bahnhof Gau-Odernheim wurde 1896 eröffnet. Da von hier aus die Züge abfuhren, lebten viele Bahnbedienstete gegenüber in Wohnhäusern. (Foto: © Paul Sulfrian)

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Buchbinderei im Bahnhof: Eine abgefahrene Idee

Es war allerhöchste Eisenbahn für einen verfallenen Bahnhof. Eine Buchbindermeisterin und ihre Familie brachten das alte Gebäude wieder auf Vordermann.

Der Duft einer wunderbaren Geschichte liegt in der Luft. Seit 1999 lebt und arbeitet die Buchbindermeisterin Christine Merkel-Köppchen mit ihrer Familie in dem ehemaligen Bahnhof Gau-Odernheim. "Wir lieben alte Gebäude", erzählt die Bahnhofsbesitzerin von dem besonderen Flair des dreigeteilten Bauwerks.

Für die selbstständige Handwerkerin war der Erwerb des Bahnhofs aber auch mit einem praktischen Aspekt verbunden: "Wir Unternehmerinnen profitieren nicht immer von den wunderbaren Mutterschutzgesetzen." Daher war die langjährige Vorsitzende der Unternehmerfrauen im Handwerk Rheinhessen auf der Suche nach einem Ort, wo sie ihre Kinder betreuen und gleichzeitig in ihrer Werkstatt arbeiten kann.

Neues Heim im alten Bahnhof

Foto: © Verlagsanstalt HandwerkFoto: © Verlagsanstalt Handwerk

Den findet sie in dem alten Bahnhofsgebäude. Im Jahr 1896 wird der Bahnhof der Nebenbahn Bodenheim-Alzey mit einer feierlichen Zeremonie in Betrieb genommen. Thomas Ehlenberger, der Vorsitzende des örtlichen Geschichtsverein, erinnert sich: "Viele belächeln heute, dass Gau-Odernheim damals als Reichsstadt eine ähnlich große Bedeutung hatte wie Köln oder Frankfurt." Die Bahn bringt den Menschen den Aufschwung.

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Zahlreiche Betriebe siedeln sich an der Bahnhofsstraße an. Gleich vier Gaststätten sorgen für das leibliche Wohl der Reisenden. Ein komplettes Neubaugebiet entsteht. Mit der Stilllegung des Personenverkehrs im Jahr 1985 und dem Güterverkehr 1995 verlor der Ort leider an Bedeutung. Umso mehr freut es Ehlenberger, dass mit der Buchwerkstatt das Leben zurückgekehrt ist.

Neoklassizistisches Gebäude

Im Oktober 1999 erfahren Christine und Ehemann Dieter Köppchen vom Verkauf des Bahnhofs. Beim Betreten des neoklassizistischen Gebäudes ist klar, "den nehmen wir. Wir hatten beide die gleiche Vorstellung wie es aussehen kann. Wenn man die Vision nicht hat, sollte man lieber die Finger davonlassen", berichtet die Handwerksmeisterin im gleichen Atemzug vom schlechten Zustand des Objekts. Vieles ist kaputt. Vom Vandalismus ganz zu schweigen.

Doch nicht nur der Umbau ist eine Herausforderung. Auch der Fahrplan der Sanierung ist wegen der gekündigten Werkstatt und dem Wohnhaus eng getaktet. In einem dicken, blauen Fotoalbum hat die Unternehmerin jeden einzelnen Arbeitsschritt dokumentiert. "Damit sich auch später alle daran erinnern können, wie es einmal ausgesehen hat."

Aufwendige Umbauarbeiten

Foto: © Brigitte KlefischFoto: © Brigitte Klefisch

Mit Hilfe vieler Handwerker kann im Februar 2000 mit dem Einzug der Buchwerkstatt der Bahnhof wieder in Betrieb genommen werden. Betreten Besucher heute den Schalterraum, erinnern die ausgetretenen Fliesen immer noch an die vielen Reisenden, die am Fahrkartenschalter hier ihre Billets in die große weite Welt gekauft haben. Jetzt steht hier eine original Lithografiepresse. Die hat Christine Merkel-Köppchen von ihrem Vater geerbt: "So stimme ich meine Kunden auf das gute, alte Handwerk ein."

Bei den Umbauarbeiten hält sich das Ehepaar strikt an die Richtlinien für denkmalgeschützte Gebäude. Und das, obwohl der Bahnhof erst zehn Jahre später unter Denkmalschutz gestellt wird. Die Fenster werden mit neuen Materialien erneuert, sehen dennoch aus wie einst.

Buchbinderei im ehemaligen Stellwerk

Die Aufteilung der Räume wird weitestgehend belassen. "Alte Häuser haben immer so etwas Besonderes", sagt Christine Merkel-Köppchen, dass sie enorm von der alten Bauweise profitiert haben. Die massiven Wände sind aus Hohlblockstein, was eine gute Dämmung garantiert. Die mit Holz durchzogenen Decken sorgen für ein gutes Wohnklima.

Die Türen bestehen aus Massivholz. Der Holzboden aus Peachpine gibt zwar bei jedem Schritt ein leises knarzendes Geräusch von sich, sorgt aber bei den Bewohnern für ein richtig gutes Klima. Im ehemaligen Stellwerk ist das Herzstück der Buchwerkstatt untergebracht: die Buchbinderei. Zwischen Regalen, gefüllt mit feinstem Papier, bunten Leimtöpfchen, einer Pappschere und Buchpressen restauriert und fertigt Christine Merkel-Köppchen mit einer Mitarbeiterin die Bücher ihrer Kunden.

Den Weg nach Gau-Odernheim finden ihre Auftraggeber via Internet. Für Merkel-Köppchen einmal mehr eine gute Verbindung: "Durch meinen Beruf verbinde ich Blätter zu Büchern, mache sie mit ihrem wertvollen Wissen nutzbar. Ein Bahnhof verbindet Menschen mit anderen Menschen, damit sie kommunizieren können. Möglich, dass dieser Gedanke den Kauf des Bahnhofs begünstigt hat.

Geschichten, die unter die Haut gehen

Dass alte Häuser aber nicht nur Geschichten über Architektur und Baumaterialien erzählen, erfährt die Handwerksmeisterin nach einem ungewöhnlichen Fund. Hinter einer zugenagelten Kammer unter dem Dachfirst findet sie Utensilien aus dem 2. Weltkrieg. "Wahrscheinlich hatte ein amerikanischer Scharfschütze hier Stellung bezogen." Auf dem Boden liegen noch die Putzutensilien für das Gewehr. Gleich daneben ein Brief, den der GI zum Valentinstag an die Freundin nach New York schicken wollte. Der Brief wurde nicht versandt.

Für Christine Merkel-Köppchen und ihre Familie ist es genau das: das Erinnern an schöne wie nachdenklich machende Geschichten. Natürlich, zu tun gibt es immer was. Gerade erst wurde der Dachfirst erneutert. Auch die handgeschmiedeten schwarzen Tore erstrahlen in einem neuen Glanz.

Ein Traum wäre die aufwendige Erneuerung der Fensterläden. "Vieles können wir nur nach und nach machen", sagt Christine Merkel-Köppchen, denn der Großteil der Umbauten werde aus eigenen Mitteln finanziert. Ein Aufwand, der sich lohnt: "Ich bin von morgens bis abends im Haus. Sozusagen 24/7 ständig in Bereitschaft", lacht die Buchbindermeisterin froh und ausgeglichen und versichert: "Es ist meine Heimat."

Text: / handwerksblatt.de

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