"Es braucht Beschleuniger im Gesundheitssystem"
Fleißig, aber keine guten Ergebnisse: Frank Hippler, Vorstandsvorsitzender der IKK classic, kritisiert im Interview die Gesundheitspolitik der Bundesregierung.
Die bundesweit tätige Innungskrankenkasse IKK classic ist die größte handwerkliche Krankenkasse in Deutschland. Insgesamt sind über die 2,5 Millionen Mitglieder dort 3,2 Millionen Bürger krankenversichert. Im Interview geht ihr Vorstandsvorsitzender Frank Hippler, selbst Krankenkassenbetriebswirt, auf die drängendsten Themen der Kasse und der Gesundheitspolitik ein.
Handwerksblatt: Herr Hippler, Ihre Krankenkasse versichert die meisten Handwerker. Leben die gesünder als der Durchschnittsbürger?
Hippler: Es gibt in der Tat Unterschiede, aber die liegen eher in der Art der Erkrankung. Das Handwerk hat körperlich fordernde Tätigkeiten, deshalb sind Krankheiten des Muskel- und Bewegungsapparats dort nach wie vor etwas stärker verbreitet als im Durchschnitt. Psychische Diagnosen, deren Anteil am Krankheitsgeschehen in den letzten Jahren so stark gewachsen ist, liegen dagegen bei handwerklich Beschäftigten immer noch unter dem Schnitt, sind freilich auch dort angestiegen.
Handwerksblatt: Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer hat an dieser Stelle vor kurzem die Politik scharf kritisiert. Wie zufrieden sind Sie mit der Gesundheitspolitik von Minister Jens Spahn?
Hippler: Nun, die Fleißnote wäre sicherlich gut. Er hat ja schon viele Vorhaben auf den parlamentarischen Weg gebracht, etwa das Versichertenentlastungsgesetz (VEG), das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz oder das Terminserviceverbesserungsgesetz (TSVG). Aber der Inhalt rechtfertigt nur ein „ausreichend“.
Handwerksblatt: Was stört Sie konkret?
Hippler: Was wir kritisch sehen, ist die im VEG verankerte, zwangsweise Absenkung des Zusatzbeitrags. Eigentlich ist es gut, dass Krankenkassen hohe Überschüsse abbauen, also Beiträge an die Versicherten zurückgeben. Doch die Vermögensrücklagen sind derzeit in der GKV extrem ungleich verteilt. Der Finanzausgleich zwischen den Kassen funktioniert nämlich nicht. Die einen bekommen zu wenig, um ihre Ausgaben zu decken, an andere fließt seit Jahren viel mehr Geld als sie brauchen. Das Gros der Kassen kommt gerade so hin, während insbesondere eine Kassenart im Geld schwimmt. Wenn sie in so einer Situation den zwangsweisen Vermögensabbau verordnen, sind Verwerfungen am Markt eine wahrscheinliche Folge. Das birgt die große Gefahr, dass die Beitragssätze von Jahr zu Jahr wie ein Pingpongball rauf und runter springen. Das hat mit Kontinuität nichts mehr zu tun und ist von den Versicherten auch nicht mehr nachvollziehbar.
Handwerksblatt: Aber die IKK classic hat doch gerade selbst ihren Zusatzbeitrag um 0,2 Prozentpunkte gesenkt?
Hippler: Das haben wir freiwillig getan, um die aktuell gute Finanzlage zu nutzen, unseren Beitrag nachhaltig wettbewerbsfähiger zu machen. Dazu bedarf es keines Eingriffs der Politik.
Handwerksblatt: Also sollte die Politik sich mehr raushalten?
Hippler: Von wegen (lacht). Uns ärgern vor allem auch Baustellen, die von der Politik gar nicht angegangen werden. Zum Beispiel die Quersubventionierung der Beiträge der ALG-II-Empfänger durch die Versichertengemeinschaft. Die sind alles andere als kostendeckend. Außerdem sehen wir die viel zu üppige Krankenhausabdeckung kritisch. Krankenhäuser sind mit über 70 Milliarden Euro jährlich der größte Finanzierungsposten in der GKV. Und es gibt viel zu viele, rund 2.000. Würde der stationäre Sektor endlich bedarfs- und qualitätsgerecht aufgestellt, könnte man die vorhandenen Pflegekräfte auch besser einsetzen; der vielbeklagte Pflegenotstand wäre mit einem Schlag entzerrt. Da geht die Politik leider nicht ran. Da sind viel zu viele Länderinteressen im Spiel.
Handwerksblatt: Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Hippler: Wir müssen immer häufiger für Kosten aufkommen, die nicht in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gehören. Beispielsweise ist nicht einzusehen, warum die im Rahmen des Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes neu zu besetzenden 13.000 Stellen für Pflegekräfte aus dem Topf der GKV finanziert werden sollen. Ein anderes Beispiel ist der Investitionsstau bei den Krankenhäusern. Deren Investitionskosten sind Ländersache, doch die Länder kommen ihren Verpflichtungen nicht nach. Anfang der 70er Jahre lagen die Krankenhausinvestitionen der Länder noch bei 25 Prozent der GKV-Ausgaben, aktuell unter 4 Prozent. Diese Kosten landen auf Umwegen, nämlich über die Leistungsvergütungen, bei den Kassen und ihren Beitragszahlern.
Handwerksblatt: An anderer Stelle treiben Sie die Politik aber auch ungeachtet der Kosten vor sich her und zwar ganz aktuell mit der elektronischen Gesundheitsakte „Vivy“…
Hippler: Zugegeben, mit Vivy überholen wir gewissermaßen die von der Politik seit nunmehr zehn Jahren versprochene elektronische Gesundheitskarte. Aber wir können nicht ewig warten. Es braucht Beschleuniger im Gesundheitssystem. Wir sind auch nicht die Einzigen. Es gibt drei nennenswerte Modelle am Markt. Vivy vereint ein Potenzial von rund einem Drittel der gesetzlich Versicherten und liegt damit vorn. Vivy ist die zurzeit am meisten in den App-Stores heruntergeladene App überhaupt.
Handwerksblatt: Was bringt die App den Versicherten?
Hippler: Autonomie und bessere medizinische Versorgung. Vivy hilft, Mehrfachuntersuchungen zu vermeiden, kann Gesundheitsdaten wie Röntgenbilder, Blutwerte oder Medikationspläne speichern und ermöglicht, diese bei Bedarf mit Leistungserbringern zu teilen. Sie erinnert zum Beispiel an Impftermine oder Vorsorgeuntersuchungen und weist auf Unverträglichkeiten bei Arzneien hin. Der entscheidende Clou aber ist die Zusammenführung aller Daten in der alleinigen Hoheit der Versicherten. Das macht aus Vivy weit mehr als eine App. Die Gesundheitsdaten können auch in Englisch eingesehen werden, was bei Auslandsreisen hilfreich ist. Weitere Sprachen werden noch eingerichtet.
Handwerksblatt: Bleibt der Datenschutz dabei nicht auf der Strecke?
Hippler: Das ist natürlich ein zentrales Thema. Vivy genügt höchsten Datensicherheitsstandards, die auch zertifiziert sind, von ePrivacy und vom TÜV, und die ständig weiterentwickelt werden. Die Server stehen in Deutschland, bei der Datenübertragung greift eine aufwändige Verschlüsselung. Klar ist aber insbesondere: Die Hoheit der Daten liegt ganz allein bei den Versicherten. Ohne deren Einwilligung darf sie nicht mal der Arzt einsehen. Wir selbst halten uns da total raus, als Krankenkasse haben wir keinerlei Zugang zu den Informationen.
Handwerksblatt: Und wenn ich meine Krankenkasse wechsele und die neue Kasse unterstützt die App nicht. Was dann?
Hippler: Das handhaben die Kassen untereinander recht pragmatisch. Wir wollen ja keine Abschottung betreiben. Der Kunde darf die App weiter benutzen. Wenn seine neue Kasse die laufenden Nutzungskosten im Gegensatz zu uns nicht für ihn übernimmt, müsste er sie allerdings selbst bezahlen. Das kostet derzeit um die 4,90 Euro im Monat.
Handwerksblatt: Zurück zur Politik. Die Regierung will die Bemessungsgrenze für den Mindestbeitrag freiwillig Versicherter zum 1.1.2019 von rund 2.300 auf 1.150 Euro absenken. Das wäre für viele kleine Selbstständige eine große Entlastung. Was stört Sie daran?
Hippler: Die Beitragsbemessung für Selbstständige ist ein ständiges Ärgernis. Oft müssen mühsam Unterlagen nachgefordert werden. Das dürfte mit der Absenkung ein Stück weit leichter werden. Das ist grundsätzlich ok. Aber die avisierte Untergrenze erscheint uns in Anbetracht des geltenden Mindestlohns zu niedrig. Es kann ja nicht das Ziel sein, dauerhaft prekäre Selbstständigkeit unterhalb der Mindestlohngrenze zu subventionieren, die dann womöglich noch in Konkurrenz zum kleinen Handwerksbetrieb agiert. Wir halten eine Absenkung auf maximal 1.500 bis 1.600 Euro für angebracht.
Handwerksblatt: Wenn Sie einen Wunsch bei Minister Spahn frei hätten, welcher wäre das?
Hippler: Das Finanzierungsthema brennt den Kassen natürlich am meisten unter den Nägeln. Und das wird stark verzerrt durch den Risikostrukturausgleich (RSA). Ich würde mir wünschen, dass der RSA so umgestaltet wird, dass eine faire Grundlage für alle Kassenarten entsteht. Der RSA ist heute ein überkomplexes System, das zum Missbrauch einlädt. Er muss kurz gesagt viel einfacher, transparenter und weniger manipulationsanfällig werden. Das käme letztlich der Versorgung aller Versicherten zugute.
Handwerksblatt: Herr Hippler, vielen Dank für das Gespräch!
Hinweis der Redaktion: Leider hatte sich in unserer aktuellen Druckausgabe des Deutschen Handwerksblatts (Ausgabe 19, 4. Oktober 2018) bei Antworten von Frank Hippler der Fehlerteufel eingeschlichen. Das hier stehende Interview gibt den korrekten Wortlaut des Interviews wider.
Text:
Michael Block /
handwerksblatt.de
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