"Eigentlich wollte ich den Brief meines Anwalts erst nach meinem Urlaub öffnen, um noch ein paar ruhige Tage zu haben", meint Fliesenleger Udo Müller aus Ratingen. Schließlich ging es um seine Existenz. Satte 88.000 Euro verlangte die Sozialkasse Bau (Soka-Bau) von ihm, Beitragszahlungen für die vergangenen acht Jahre. Eine Summe, die für das kleine Unternehmen das Aus bedeutet hätte. Lange Zeit hat Müller sich gegen die Forderungen gewehrt und vor den unteren Gerichten verloren.
Aber nun hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) in letzter Instanz auf seine Seite gestellt (Beschlüsse vom 21. September 2016, Az. 10 ABR 48/15 und 10 ABR 33/15). Dass die Erfurter Richter die Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) der Soka-Bau-Tarifverträge kippen würden, kam für viele Beobachter überraschend. Das Gericht begründete dies vor allem damit, das Bundesarbeitsministerium habe keine belastbaren Zahlen dafür vorgelegt, dass die notwendigen 50 Prozent an tarifgebundenen Arbeitgebern in der Branche erreicht würden.
Ein weiteres Argument war, dass in den Jahren 2008 und 2010 zudem nicht einmal die zuständigen Minister, sondern nur die Referatsleiter die AVE verfügt hatten. Folge der unwirksamen AVE ist, dass von Oktober 2007 bis Dezember 2011 und in 2014 nur tarifgebundene Arbeitgeber in die Soka-Bau einzahlen mussten. Alle anderen Baubetriebe waren nicht verpflichtet, Beiträge zu leisten.
Müller ist sehr erleichtert: "Meine Rechtsschutzversicherung hat glücklicherweise aus Kulanz die ganzen Verfahrenskosten übernommen, obwohl man kollektives Arbeitsrecht normalerweise nicht versichern kann." Mit ihm freut sich Rechtsanwalt Dr. Georg Groth, der für den Fliesenleger und einige andere Kläger den Sieg erstritten hat. Groth hat in Erfurt lange verhandelt.
Dort sprachen die Richter einen weiteren Punkt an, der die Baubranche in Atem halten dürfte: "Das Gericht erklärte, dass die beteiligten Bauarbeitgeberverbände Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) und Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) gar nicht die Tarifmacht hatten, um diese Tarifverträge abzuschließen", sagt er. "Der Vorsitzende bezog sich dabei auf die Entscheidung über die christlichen Gewerkschaften CGZP, an der er selbst mitgewirkt hatte."
Tarifmacht der Verbände angezweifelt
Dieser Beschluss besagte, dass Spitzenverbände nur dann wirksam Tarifverträge abschließen können, wenn sie die tarifliche Zuständigkeit von den untergeordneten Landesverbänden vollständig vermittelt bekommen. Und das ist nach Ansicht der Erfurter Richter bei HDB und ZDB fraglich. "Wenn das so ist, dann wären alle Bautarifverträge der letzten Jahre und der laufende Tarifvertrag unwirksam, auch der zum Mindestlohn", ist sein Fazit.
Und es geht weiter: Am 14. Dezember 2016 entscheidet das BAG über die AVE der Jahre 2012 und 2013. Angekündigt wurde auch ein Verfahren gegen die AVE von 2015. Die Rechtslage ist seit 2015 aber eine andere, denn das Tarifvertragsgesetz wurde damals geändert und die 50-Prozent-Quote als Voraussetzung für eine AVE abgeschafft. Viel Stoff für weitere rechtliche Scharmützel.
Für die betroffenen Betriebe ist jetzt die wichtigste Frage: Bekommen sie ihre gezahlten Beiträge zurück? Das ist nicht so einfach zu beantworten. Grundsätzlich gelten die Entscheidungen des BAG für und gegen jedermann, das heißt: Nicht nur die siegreichen Kläger können sich darauf berufen, sondern alle Betriebe. Was weiter zu tun ist, hängt vom Einzelfall ab. Sicher ist laut Rechtsanwalt Groth nur, dass tarifgebundene Unternehmen zahlen müssen, wenn die Tarifverträge wirksam sind oder sie deren Geltung in den Verträgen mit ihren Arbeitnehmern vereinbart haben.
Wer hat schon bezahlt, wer nicht?
Für die nicht tarifgebundenen Betriebe kommt es darauf an, was sie bisher unternommen haben. Die größten Probleme dürften diejenigen haben, die wegen eines rechtskräftigen Urteils gezahlt haben. Denn für abgeschlossene Klageverfahren über Beitragsansprüche sei eine Wiederaufnahme der Verfahren nicht möglich, heißt es in der Pressemitteilung des BAG. Aber auch: "Ob im Übrigen wechselseitige Rückforderungsansprüche für Beitrags- und Erstattungsleistungen bestehen und ob die Unwirksamkeit der AVE einer Vollstreckung aus rechtskräftigen Entscheidungen entgegensteht, hatte der Senat nicht zu entscheiden." Das heißt: Alle anderen können hoffen, sollten sich aber auf jeden Fall anwaltlichen Rat einholen.
Bei nicht tarifgebundenen Unternehmen sind folgende Fallgruppen zu unterscheiden:
1. Wer noch nicht gezahlt hat, muss auch nicht zahlen.
2. Wer freiwillig gezahlt hat, kann Geld zurückfordern (abzüglich erhaltener Soka-Leistungen).
3. Wer verurteilt wurde, aber noch nicht gezahlt hat, kann Vollstreckungsgegenklage erheben.
4. Wer rechtskräftig verurteilt wurde und gezahlt hat, hat ein Problem und sollte anwaltliche Beratung suchen.
Fliesenleger Udo Müller ist seine Sorgen jedenfalls endgültig los: Er hat noch nicht gezahlt und kann entspannt in den Urlaub fahren.
ZVEH
Das Elektrohandwerk ist erfreut über den Erfolg seiner Klage. Der Vizepräsident des Zentralverbands der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH), Dr. Gerd Böhme, sagt dazu: "Wir begrüßen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die die Rechtsauffassung des ZVEH in vollem Umfang bestätigt und im Sinne unserer Mitgliedsbetriebe ausgefallen ist.“ Böhme ist im Verband zuständig für das Ressort Tarif und Sozialpolitik und betont: "Wir erhoffen uns zusammen mit der IG Metall nachhaltige Fortschritte für eine zukünftig saubere fachliche Abgrenzung der tariflichen Zuständigkeiten zwischen Bauhauptgewerbe und Elektrohandwerken.“
IG BAU
"Für uns als Tarifpartei gibt es keinen Zweifel an der Tarifmacht der beiden anderen Tarifparteien HDB und ZDB“, meint Rechtsanwalt Frank Schmidt-Hullmann, Hauptabteilungsleiter Politik und Grundsatzfragen bei der IG BAU.
ZDB
"Auf die aktuelle Beitragspflicht und den aktuellen Beitragseinzug der Soka-Bau hat die BAG-Entscheidung vom 21. September 2016 schon deshalb keinerlei Auswirkungen, weil die AVE von Tarifverträgen seit Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes im August 2014 auf einer neuen gesetzlichen Grundlage erfolgt. Auch die AVE des derzeit geltenden Sozialkassentarifvertrages 2016 ist bereits auf neuer gesetzlicher Grundlage erfolgt. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat bereits durch Beschluss vom 21. Juli 2016 die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des Sozialkassentarifvertrages für das Vorjahr (2015), welche ebenfalls auf dieser neuen gesetzlichen Grundlage erfolgt ist, bestätigt.
Text:
Anne Kieserling /
handwerksblatt.de
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