Jürgen Ulbrich über eine besondere Italien-Reise: 8200 Kilometer mit einer über 40 Jahre alten Moto Guzzi 750 S3.
Februar 2015:: Erst ist es nur eine fixe Idee. In Erinnerung an meine Guzzi-Sommertour 1987 nach Italien, die darin gipfelte, dass ich in der Basilikata meine Frau kennenlernte, plane ich eine 30-Jahre-Jubiläumstour. Warum nicht Jahrzehnte später erneut in den Stiefel fahren und den Sechs-Wochen-Trip in den sozialen Netzwerken ankündigen?
Bald chatte ich mit Liebhabern klassischer Guzzis aus Mailand, Rom und Neapel, von den Alpen bis nach Sizilien. Schnell wird klar, anders wie einst interessieren sich die Tifosi für meine Sportlerin. Bei der Routen-Planung helfen mir die Verpflegungs- und Couchsurfing-Angebote der neuen Kumpel. Meine Frau hingegen warnt mich: "Du bist viel zu alt. Wo willst du schlafen und essen?" "Unter Brücken und am Strand, für Essen werde ich betteln", scherze ich.
30. Juli 2017: Die Sonne strahlt, der Fahrwind kühlt nur wenig, unter mir arbeitet der urige V-Motor der Moto Guzzi 750 S3. Mein "Giro d’Italia 2017" beginnt, aus der fixen Idee ist Realität geworden, mein Traum wird wahr. Ich fühle mich frei, stark, jung. Drei Gepäckrollen, Tank-Rucksack, Fotoausrüstung und Internet-Equipment auf dem Rücken machen meine S3 zum "Lastenesel", so spotten meine Kumpel. Das Auf- und Absteigen erweist sich wiederholt als Prüfung.
"Mein Traum wird wahr. Ich fühle mich frei, stark und jung."
Bei Schwetzingen ist die Fahrt abrupt zu Ende, ich habe die Benzin-Reserve überschätzt. Die Rettung: Guzzi-Kumpel Werner, der sich im 90 Kilometer entfernten Zweiflingen ins Auto setzt und mir Sprit bringt. Ich bin gerührt ob seiner Hilfsbereitschaft – die gibt’s nur unter Bikern!
In der Schweiz nahe Chur fahre ich in ein Unwetter, es blitzt und donnert bei extremen Seitenwinden und strömenden Regen. Kurz vor dem Splügenpass breche ich die Fahrt ab, kehre ins "Gasthaus Rofflaschlucht" ein und spüle meinen Frust mit lokalem Bier hinunter.
Intensive Biker-Momente genieße ich tags darauf in den engen Kehren hinauf zum 2115 Meter hohen Splügen. Während der spektakulären Abfahrt durch das Val San Giacomo ins kleine Campodolcino wird es immer heißer. Ich lege eine Espresso-Pause ein, Wirt und Gäste schauen auf, als sie die in ihrer Heimat sehr seltene S3 mit ihren schwarzen Silentium-Auspuffrohren hören. "Das ist wahre Musik, ein Meisterwerk", freuen sie sich. "Schmerzt der Hintern und spürst du den Rücken?" sind die Fragen, die ich verneine. "Verrückter Deutscher, fährst eine Italien-Tour mit einer Legende", lachen sie, "Italiener stellen sie in die Vitrine."
Tagesstrecken und Ziele plane ich über meine virtuellen Kontakte. Oft weiß ich morgens noch nicht, wo der Tag enden wird. Autobahnen sind tabu, ich fahre nur Provinzstraßen. Die bieten vielfältige Eindrücke der Landschaften und Bewohner, denen schon Johann Wolfgang von Goethe mit "Die italienische Reise" ein Denkmal setzte.
Ich benutze Straßenkarten, denn Navi passt nicht zum 70er-Style, für Detailsuchen muss die Smartphone-App ran. Wie in dem halb verlassenen Dorf Postalesio in der Provinz Sondrio. Dort erwartet mich Raffaele mit seiner V7 Sport. Auf unseren Maschinen erkunden wir die majestätischen Gebirgszüge des Veltlin. Später wird bis in die Nacht gegessen, getrunken, gelacht – Benzingespräche inklusive.
So ergeht es mir mit allen Bikern, die ich treffe. Etwa mit Marco aus Brescia, Besitzer von vier V7 850 GT, einer Griso und einer 850 T. Ich erreiche die Stadt bei 38°C, doch Marco ist mit Familie längst ins Haus der Schwiegereltern hoch über den Garda-See geflüchtet. Dort verbringen wir zwei fantastische Tage mit spektakulären Touren. Und zum Ausblick auf den See gibt’s abends "Picco Rosso", ein regionaler Himbeer- und Erdbeerlikör – mit stolzen 61 Prozent.
"Meine 750 S3 hat die Extremtour und die Hitze schadlos überstanden, nur eine Fußraste und einige Muttern hat sie verloren."
Ein Highlight ist meine Ankunft in Mandello del Lario am Comer See, Stammsitz von Moto Guzzi. Hier wurde meine S3 1975 gebaut. Beim Foto vor dem Werkstor treibt mir die Hitze die Schweißperlen auf die Wangen. Oder sind es Freudentränen? Meine bis dahin virtuellen Freunde Roberto und Antonio sind herbeigeeilt, begrüßen mich überschwänglich.
Selten bleibt mein Kommen unbemerkt. Wo ich halte, sprechen mich Menschen an, egal ob in Pordenone in der Region Friaul Julisch-Venetien, in Verona oder Bergamo, am Bolsena- und Bracciano-See, aber auch in Großstädten wie Rom, Palermo und Mailand.
In der Domstadt schlüpfe ich bei 40°C bei Nello unter, an Motorradfahren ist nicht zu denken. Wir trotzen der Rekord-Sommerhitze in seiner Wohnung bei Spaghetti, Rotwein, Wasser und Espresso. Die Guzzi steht in der Tiefgarage, "sonst ist sie weg", sagt Nello, Erstbesitzer einer Le Mans von 1976. Nur für Spritztouren auf den löchrigen Kopfsteinpflastern Mailands holen wir unsere Schmuckstücke aus dem Untergrund.
Überall ein gern gesehener Gast
Die Italiener sind für ihre Gastfreundschaft berühmt, sie öffnet mir überall Türen und Tore. So erkunde ich mit Giacomo, Luigi und Pier Paolo aus Rom die Hügel rund um die "Ewige Stadt", mit Mario mache ich den Golf von Gaeta unsicher, Giuseppe aus Vico Equense ist mein Guide auf den fantastischen Küstenstraßen von Sorrent und Amalfi. Eine große Ehre erlebe ich in Catania auf Sizilien. Dort richtet der "Moto Guzzi Club del’ Etna" nach einem heißem Ritt durch die schwarze Mond- und Kraterlandschaft des berüchtigten Vulkans Ätna zu meinen Ehren ein riesiges Grillfest aus.
Auf dem Festland zurück lege ich eine Pause bei meiner Schwiegermutter in der Basilikata ein, der heiße August ist zu Ende, es wird kühler. Zeit für einen Abstecher nach Apulien. An südlichsten Punkt des Absatzes stehe ich am Capo Santa Maria di Leuca, Sehnsuchtsort meines Schwiegervaters. Seine Familie lerne ich weiter nördlich in dem kleinen Dorf Ruffano kennen.
50 Jahre V2-Motor
Auf der Fahrt Richtung Heimat verbringe ich herrliche Biker-Tage in den Regionen Molise, Abruzzen, Marken und in der Emilia Romana. Zurück in der Lombardei ist mein erneutes Ziel Mandello del Lario. Dort wird der 50. Geburtstag des V2-Motors gefeiert. Auch Marco, Luigi, Werner und viele neue Freunde sind gekommen. Nur am ersten Tag fahren wir stolz durch das Städtchen, danach regnet es ununterbrochen. Das Fest fällt ins Wasser, meine S3 bleibt in der Garage.
11. September 2017: Es geht zurück nach Hause, nach knapp zehn Stunden strammer Autobahnfahrt sehe ich die Domspitzen Kölns wieder. Mein Fazit: meine 750 S3 hat die Extremtour und die Hitze schadlos überstanden, nur eine Fußraste und einige Muttern hat sie verloren. Ihr verdanke ich viele neue Freunde, die mir ans Herz gewachsen sind. Eines ist sicher, ich werde nicht noch einmal 30 Jahre warten, bis ich wieder mit meiner alten Lady nach Italien reise. Das habe ich meinen Freunden versprochen. So ist zum 100. Guzzi-Geburtstag im September 2021 schon eine Wohnung am Comer See für mich reserviert.
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