Dr. Jens Prager beim Blick hinter die Kulissen: Wenn viele Prozesse automatisiert im Hintergrund ablaufen, bleibt der Handwerksorganisation mehr Zeit für die Mitgliedsbetriebe.

Dr. Jens Prager beim Blick hinter die Kulissen: Wenn viele Prozesse automatisiert im Hintergrund ablaufen, bleibt der Handwerksorganisation mehr Zeit für die Mitgliedsbetriebe. (Foto: © Thomas F. Starke)

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"Digitale Vorreiter ziehen viele mit, weil sie wirtschaftlich erfolgreich sind"

Dr. Jens Prager, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe, spricht im Interview mit dem Deutschen Handwerksblatt (DHB) über den digitalen Nachholbedarf im Handwerk.

Dr. Jens Prager ist Ökonom und Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu Bielefeld. Wir sprachen mit ihm über die Digitalisierung und die Anstöße, die die Betriebsinhaber, aber auch die Handwerksorganisation brauchen, um nicht von der Entwicklung abgekoppelt zu werden.

DHB: Herr Dr. Prager, jeder redet über Digitalisierung, aber meint etwas anderes. Wenn wir über das Handwerk reden, wie definieren Sie Digitalisierung?
Prager: Aus meiner Sicht sind digitalisierte Betriebe solche, die sich durch das Digitale Zeit verschaffen, um ihrem Handwerk nachzugehen. Sie haben einen Großteil ihrer Prozesse im Hintergrund digitalisiert, was sie in die Lage versetzt, dem Kunden ein ganz anderes Servicelevel anbieten zu können.

DHB: Manche Gewerke können auch nicht ohne Digitalisierung arbeiten.
Prager: Ja, wir haben Bereiche wie den Maschinen- und Werkzeugbau, die Elektrotechnik, das Bau- und Ausbauhandwerk, in denen die Digitalisierung heute wie selbstverständlich zum Planungs- und Umsetzungsprozess gehört. Die digitalen Leader im Handwerk erwirtschaften nachweislich mehr Umsatz und Ertrag, sind schneller, haben mehr Kunden und wickeln ihre Aufträge in besserer Qualität schneller ab.

DHB: Wo sind die Betriebe, die Nachholbedarf haben?
Prager: Dazu gehören die Betriebe, die weder in den Prozessen im Hintergrund noch in ihrer Fertigung und Umsetzung bis jetzt das Thema "Digitalisierung" auf dem Schirm haben. Sie werden irgendwann einmal aufgefressen – nicht durch die Digitalisierung, sondern durch ihre Tatenlosigkeit im Umgang mit den Chancen der Digitalisierung.

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DHB: Können Sie das mal auf Branchen herunterbrechen?
Prager: Naturgemäß sind einzelne Branche weit hinten, weil sie sich nicht direkt betroffen fühlen. Friseure waren beispielsweise lange nicht im Fokus. Die Pandemie hat aber gezeigt, dass ein digitaler Kalender oder ein Buchungssystem ganz praktisch sein können – und das wird bleiben. Ebenso IT-Anwendungen, die es auch schon länger gibt, um Kunden zu demonstrieren, wie ihre neue Frisur aussehen könnte. Beides haben Friseursalons auch schon vor Corona getan, jetzt sind es ein paar mehr – und insofern ist es schwierig, Branchen zu benennen, die gar nichts tun oder noch einen Anstoß brauchen.

DHB: Können Sie in Zahlen fassen, wie viele Betriebe Nachholbedarf haben?
Prager: Ich sehe eine 20-60-20-Verteilung: 20 Prozent marschieren vorneweg, das sind die digitalen Vorreiter, und ziehen viele mit, weil sie wirtschaftlich erfolgreich sind. 60 Prozent schwimmen mit dem Strom. Die sind zwar nicht Vorreiter, aber bei wesentlichen Entwicklungen immer dabei. Nehmen Sie Familienbetriebe, die sind jahrzehnte oder gar jahrhundertelang in Familienhand und immer noch erfolgreich am Markt, weil sie sich an solchen Entwicklungen beteiligen. Sie machen mit, sind aber nicht der Initiator. Dann gibt es aber auch ein Fünftel unserer Betriebe, die abgehängt werden und auf Dauer nicht zu retten sind. Dafür kommen durch Neugründungen und Innovationen neue Betriebe nach: Die Zahl der Betriebe bleibt wahrscheinlich gleich, aber es sind andere.

DHB: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Betriebsgröße und dem Alter des Betriebsinhabers zum Grad der Digitalisierung?
Prager: Es gibt schon die Tendenz, dass je größer ein Betrieb ist, dieser auch digitaler aufgestellt ist. Aber auch die Spezialisierung ist entscheidend – mit zunehmender Spezialisierung sind die Betriebe unabhängig von der Größe digitaler. Ein Beispiel dafür ist der Betrieb Fachwerkstatt Drücker in Rietberg. Der hat sich schon früh auf das digitale Aufmaß von Gebäuden spezialisiert. Sein Spezialgebiet ist die Restaurierung von Fachwerkhäusern, also von Gebäuden, in denen kein Winkel rechtwinklig ist. Daraus haben sie eine Dienstleistung für die Industrie entwickelt. Kaufen die eine Maschine, die nicht durch die Türen ihrer Werkshallen passt, können sie durch ihre digitalen Messdaten genau sagen, wo sich zum Beispiel das Dach am wirtschaftlichsten aufmachen lässt, um die Maschine an Ort und Stelle zu bekommen. Auch das Alter selbst ist für den Grad der Digitalisierung weniger relevant. Ich glaube, das hängt mehr von persönlichen Eigenschaften ab, die dem Handwerker eigen sind: Mut, Offenheit für Neues, Kreativität.

DHB: Ist die von HANDWERK.NRW vorgeschlagene Digitalisierungsprämie ein Weckruf für die Betriebe, die noch abgeschlagen sind? Auf Geldtöpfe reagiert schließlich jeder.
Prager: So, wie wir die Digitalisierungsprämie vorschlagen, geht es nicht nur um Geld für eine Investition. Das wäre mir auch zu billig. Wir meinen damit eine Förderung, die mit einer Bedarfsanalyse anfängt, also schaut, was braucht der Betrieb überhaupt. Dann soll ein Teil in die Investition fließen, ehe ein größerer Teil der Prämie dem Betrieb für Schulungen, Anpassungen und Beratungen zur Verfügung steht, um die Digitalisierung anzuwenden und in sein Geschäftsmodell zu integrieren.

DHB: Haben Sie eine Größenordnung, wie hoch diese Prämie ausfallen sollte?
Prager: Wir haben noch keine konkrete Zahl dazu genannt, könnten uns aber einen Dreiklang vorstellen: 5.000 Euro für Kleinstbetriebe, 10.000 Euro für Kleinbetriebe und 15.000 Euro für größere Betriebe. Außerdem muss in jedem Förderfall der Dreiklang aus Analyse, Investition und Schulung gegeben sein. Denn Fördertöpfe für Investitionen gibt es schon, auch wenn die nicht immer zum Handwerk passen. Schließlich kann der Handwerker, der sich etwas schwerer tut, oft nicht sagen, was er braucht und was sinnvoll ist und benötigt daher Unterstützung von Experten mit Branchenkenntnissen.

DHB: Das heißt aber auch, das Beratungs-Know-how kann nicht nur von der Handwerkskammer kommen, sondern auch von fachspezifischer Seite, also Innungen und Verbänden.
Prager: Das ist völlig richtig. Dieser Aufwand muss von der gesamten Handwerksorganisation geleistet werden. Wir führen gerade das landesübergreifende Projekt handwerk-digital.nrw durch. Da sind aus gutem Grund zwei Fachverbände mit dabei. Denn das, was die Tischler und die Metaller einbringen, das können wir von der Kammerseite aus gar nicht – und das gilt auch für ein Projekt wie die Digitalisierungsprämie. Hier könnte das Land NRW wirklich etwas tun, aber natürlich auch andere Bundesländer, die das Modell adaptieren könnten.

DHB: Hat das Handwerk überhaupt noch faire Wettbewerbsbedingungen in einem zunehmend digitalisierten Wirtschaftsleben?
Prager: Der Handwerksbetrieb lebt davon, dass er seinen Kunden gut kennt und genau weiß, was beim Kunden in der Wohnung oder dem Haus verbaut ist. Er kann dann passgenau helfen, egal, ob es um Reparaturen oder eine energieeffiziente Sanierung geht. Wir sehen aber auch, dass große Plattformanbieter wie Amazon solche Dienste gerne zentral anbieten. Werden solche Handwerksleistungen nur noch über Plattformen vertrieben, ist der Handwerker am Ende nur noch ein Handlanger – von Amazon & Co. Nehmen Sie Installationen wie Google Nest: Google weiß ganz genau, wann jemand wo im Haus ist. Wenn Handwerk eine Rolle spielen soll, muss es auch einen fairen Zugang zu diesen im hohen Maßstab erhobenen Daten bekommen, weil es sonst seine Leistungen nicht mehr anbieten kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Verbraucher nur noch Montagekolonnen haben will, die dann im Notfall aber nicht zur Fehlerbehebung greifbar sind.

DHB: Sie monieren auch eine stärkere Anerkennung des Handwerks als Digitalisierer. Fehlt den Kunden das Bewusstsein, dass das Handwerk Digitalisierungsideen und Techniken in die Häuser der Kunden bringt?
Prager: Genau das fehlt mir in der Wahrnehmung. Die klugen Lösungen der Ingenieure funktionieren nur dann zu Hause wenn sie einer verbaut, der sich auskennt. Wer installiert denn das SmartHome? Wer zieht die Masten hoch, damit jeder 5G nutzen kann? Wer zieht die Strippen bei der Energiewende, die den Umstieg möglich machen? Das sind die Handwerksbetriebe. Nur: Bei aller Wertschätzung wird bei diesen High-Level-Themen häufig vergessen, diejenigen mit am Tisch zu haben, die dafür sorgen, dass alles massenhaft zur Anwendung kommt. Zugegeben: Das Handwerk wird nicht im großen Stil diese Lösungen entwickeln, aber es wird dafür sorgen, dass auf intelligente Art diese neuen Lösungen verbaut werden.

DHB: Den "Schwarzen Peter" bekommt die Politik, denn die Industrie haben Sie an Ihrer Seite. Bei jedem Interview mit Verantwortlichen in den Chefetagen großer Konzerne sagen diese bewusst, dass sie auf das Handwerk nicht verzichten können, weil die Handwerker diejenigen sind, die die PS letztlich auf die Straße bringen.
Prager: Das stimmt, der Einbezug der Industrie ist ein wichtiger Hinweis, weil es tatsächlich um ein Miteinander geht – und das ist ein Dreiklang aus Industrie, Handwerk und Politik.

DHB: Welche Hausaufgaben müssen Sie denn als Handwerkskammer in Sachen Digitalisierung machen?
Prager: Ich sehe den Hauptbedarf eigentlich da, wo ich ihn auch bei den Betrieben sehe. Die komplette Handwerksorganisation, also Handwerkskammern, Kreishandwerkerschaften, Fachverbände und Innungen, stehen mit denselben Kunden in Kontakt, den Mitgliedsbetrieben. Hier brauchen wir eine Vernetzung innerhalb unserer Organisation, damit jeder Handwerksbetrieb nur einmal seine Daten abgeben muss. Mit einer solchen Infrastruktur im Hintergrund könnten wir viele unserer Leistungen automatisieren, so dass dem Kunden, wenn der am Ende ein individuelles Problem hat, viel individueller geholfen werden kann, weil die Mitarbeiter mehr Zeit dafür haben.

DHB: Das Onlinezugangsgesetz zu Verwaltungsdienstleistungen …
Prager: … wird diese Thematik noch einmal richtig pushen. Mein Ziel ist es, dass wir alle zusammen schneller, kundenfreundlicher und unbürokratischer werden.

DHB: Das klingt gut, dürfte aber auch die Angst gerade bei Innungen oder Kreishandwerkerschaften aufwerfen, sie werden nicht mehr gebraucht, wenn eine Kammer datentechnisch alles hat.
Prager: Das bezweifle ich, auch wenn es diese Sorge natürlich gibt. Ich glaube, dass gerade dann unsere dezentrale Organisationsstruktur ihre Stärke ausspielen kann. Wenn vieles automatisiert im Hintergrund ablaufen würde, dann hätten wir auch und gerade vor Ort in Innungen und Kreishandwerkerschaften wieder die Zeit, uns ganz konkret auf die individuellen Anliegen der Betriebe zu konzentrieren, anstatt diese Zeit der Bürokratie zu opfern.

Das Interview führte Stefan Buhren

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Text: / handwerksblatt.de

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