"Schulsystem steht frühem, praxisorientiertem Unterricht im Weg"
Wenn Kinder ihre Stärken und Interessen kennen, wählen sie selbstbewusster einen Beruf. Patricia Heitmar setzt sich dafür ein, dass Handwerk und Technik möglichst früh an den Schulen vermittelt werden. Handwerker unterstützen sie dabei.
Es ist paradox: "In der Phase, in der sich Kinder mit leuchtenden Augen für Handwerk und Technik begeistern lassen, wird ihnen von der ersten bis zur sechsten Klasse kaum etwas geboten. Wenn sie 15 oder 16 Jahre alt sind, haben sie oft Wichtigeres im Kopf als Schule und Berufswahl", beobachtet Patricia Heitmar.
Die Mutter von zwei Grundschulkindern hat viele Jahre als Personalentwicklerin in einem Unternehmen dual Studierende, Azubis und Nachwuchsführungskräfte rekrutiert. Nun leitet sie Praxisprojekte im Rahmen der Berufsvorbereitung an einer zertifizierten MINT-Schule.
In Bewerbungsgesprächen oder bei Bewerbungstrainings mit Schülern und Schülerinnen erhielt sie auf die Frage nach dem Grund der Berufswahl oft die Antwort: "Mein großer Bruder und meine Eltern haben mir geraten, mich zu bewerben, weil es ein guter Arbeitgeber und ein interessanter Beruf sein soll."
Verborgene Stärken und Talente
Patricia Heitmar Foto: © #mehrpraxisinschule/Carsten StorkJugendliche und junge Erwachsene sollten jedoch einen beruflichen Weg einschlagen, der zu ihnen passt. Genau darin liegt für Patricia Heitmar aber die Crux. "Vielen bleiben ihre Stärken und Talente – vor allem im handwerklich-technischen Bereich – verborgen, weil das häusliche, soziale und schulische Umfeld ihnen gar nicht dabei hilft, sie zu entdecken."
Praxisprojekte mit Handwerkern
Deshalb setzt sie sich dafür ein, diese Fähigkeiten und Interessen von Kindern möglichst früh praxisorientiert zu fördern. So könnten Grundschulen, aber auch weiterführende Schulen mit örtlichen Handwerksbetrieben kooperieren oder selbst handwerkliche Praxisprojekte anbieten.
Lehrplan der Schulen steht im Weg
Nach ihren eigenen Erfahrungen befürworten dies auch viele engagierte Lehrkräfte. "Ich höre sehr oft, dass die Lehrkräfte offen für Praxisprojekte sind und sich wünschen, diese gemeinsam mit Betrieben in der Schule oder auch im Betrieb selbst durchzuführen."
Dem steht derzeit jedoch der eng getaktete Lehrplan im Weg – es fehlt an Zeit, personeller Ressource und Freiraum dafür.
Bildungsinitiative gestartet
"Wer seine Stärken und Interessen kennt, trifft selbstbewusst seine Berufswahl und setzt sich dabei auch gegen vorgefasste Meinungen und äußere Einflüsse durch", ist Patricia Heitmar überzeugt.
Seit vielen Jahren blogge sie unter dem Namen "neworkerZ" zu Bildungsthemen. Gemeinsam mit Tabea Düpree von BB-Tischwerk und einem Team aus verschiedenen Handwerksbetrieben startete sie die Initiative "#mehrpraxisinschule".
Begeisterung fürs Handwerk wecken
Die Initiative setzt sich für mehr Projekttage im Schulsystem für praxis- und zukunftsorientierten Unterricht ab der Grundschule ein. Gerade die Begeisterung für Handwerk, Mathematik, IT, Naturwissenschaften und Technik (MINT) steht dabei im Fokus. "Es gibt ganz viele tolle Ideen und Projekte, die Talente von Kindern und Jugendlichen zu fördern, aber das Schulsystem steht im Weg", bemängelt Patricia Heitmar.
Ziele von #mehrpraxisinschule 2021
Das Logo der Bildungsinitiative hat der Cartoonist Ralph Ruthe gezeichnet. Foto: © #mehrpraxisinschule/Ralph RutheDen Zeit- und Aktionsplan beschreibt Patricia Heitmar selbst als sportlich. Bis Ende 2021 sollen viele neue Unterstützer für #mehrpraxisinschule gewonnen werden und sich der Initiative in Form einer unverbindlichen, schriftlichen Vereinbarung anschließen. Daraus soll ein bundesweites Netzwerk entstehen. Zusätzlich wird in Beiträgen auf Instagram unter dem Hashtag #mehrpraxisinschule darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig mehr Praxis in Schule ist.
Ziele von #mehrpraxisinschule 2022
Ab 2022 sollen Bildungswissenschaftler, Lehrkräfte und Influencer auf dem neworkerZ-Instagram-Kanal zu Wort kommen, etwa zu Geschlechterstereotypen bei der Berufswahl. "Wenn Mädchen von klein auf Zugang zu Technik und Handwerk hätten, wären sie als junge Frauen offener dafür, eine Ausbildung im Handwerk zu beginnen", meint Patricia Heitmar. Dies könne sogar durch wissenschaftliche Studien belegt werden. Bereits Ende Januar will das Team um #mehrpraxisinschule mit der gesammelten Expertise auf die Politik zugehen.
Unterstützer aus dem Handwerk
Martin Holl Foto: © #mehrpraxisinschule/Carsten StorkMartin Holl hat "neworkerZ" als Bildungsblog auf Instagram lange beobachtet. Der Gründer und Geschäftsführer von Check and Work ist Teammitglied der ersten Stunde von #mehrpraxisinschule. "Wir alle müssen die Initiative unterstützen, weil wir alle im Handwerk davon profitieren", glaubt der gelernte Elektroniker und Wirtschaftsingenieur.
Reichweite nutzen, Druck aufbauen
Der Kooperationsplattform gehören über 1.100 Fachbetriebe an. Auf Instagram folgen Check and Work mehr als 4.400 Abonnenten. Dieses Gewicht will er in die Waagschale werfen. "Wir wollen unsere Reichweite, aber auch die Reichweite unserer Mitglieder wie etwa dem ZEP-Team nutzen, um Druck auf die Bildungspolitik aufzubauen."
Monteure verdienen gutes Geld
Martin Holl würde sich wünschen, dass Kinder möglichst früh erleben, wie schön die Arbeit mit Kopf und Hand sein kann. Bei einem 16-Jährigen damit anzufangen, sei zu spät. "Dann grätschen oft die Eltern dazwischen und raten zum Studium, weil man danach angeblich so viel verdient."
Klischees wie diese kann er leicht widerlegen. Dazu reicht ihm der Blick auf die Gehaltsliste und den Parkplatz des elterlichen Elektrobetriebs. "Unsere Monteure verdienen teilweise besser als ein Ingenieur und unsere frisch ausgelernten Azubis fahren mittlerweile schon kurz nach der Ausbildung mit großen Autos vom Hof."
Mitglieder der Plattform aktivieren
Für den Geschäftsführer von Check and Work birgt die Initiative #mehrpraxisinschule" deshalb ein riesiges Potenzial, um Nachwuchskräfte für das Handwerk zu gewinnen und die gesellschaftliche Meinung über das Handwerk positiv zu verändern.
Sollten die Schulen mehr Freiraum erhalten, um enger mit externen Praxispartnern zusammenarbeiten zu dürfen, will er die Mitglieder der Kooperationsplattform aktivieren. "Von unseren Fachbetrieben weiß ich einfach, dass Kinder dort gut aufgehoben wären."
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Text:
Bernd Lorenz /
handwerksblatt.de
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