Großbritannien verlässt die EU: Stimmen zum Brexit
Großbritannien hat sich für einen Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden. 51,9 Prozent der Wähler stimmten bei dem Referendum zum möglichen Brexit für den Austritt.
Großbritannien wird die EU verlassen. Eine knappe Mehrheit der britischen Wähler stimmte beim Referendum für den Ausstieg. Großbritannien ist damit das erste EU-Mitglied überhaupt, das aus der Gemeinschaft ausscheidet – ein historischer Bruch in der Geschichte Europas. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) bewertet den Austritt als großen Verlust für alle Beteiligten. "Die Briten verlieren an Gewicht auf der weltpolitischen Bühne und zugleich ihren Zugang zum weltweit größten Binnenmarkt. Auf der anderen Seite muss die Europäische Union den Verlust ihres wichtigsten Finanzplatzes und damit ihres Tors zum Commonwealth sowie in die USA hinnehmen", urteilt das Institut.
Es liege nun an den EU-Vertretern sicherzustellen, dass der Brexit kein Präzedenzfall für andere EU-Staaten wird. "Sprich: Die Zeit des Rosinenpickens für alle Nörgler und Abweichler ist vorbei, jetzt muss die EU harte Kante zeigen." Das IW rechnet mit überschaubaren wirtschaftlichen Folgen. "Es ist nicht mit einem erneuten Losbrechen der Eurokrise zu rechnen. Die Reformen der Krisenstaaten sind weit genug fortgeschritten, das Finanzsystem hat Risikopuffer aufgebaut und der Austritt kommt letztlich ohne Überraschungsmoment daher. Eine Aufwertung des Euro gegenüber dem britischen Pfund verschlechtert zwar die europäische Wettbewerbsfähigkeit. Das geschieht allerdings in einem Maße, das die Wirtschaft kompensieren kann."
Neue Prioritäten setzen
Die Entscheidung der Briten, Europa den Rücken zuzukehren, sei ein trauriger Tag für beide, so der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer. Die Einigung Europas müsse das Ziel bleiben. "Gerade deshalb verbietet die Entscheidung der Briten ein 'weiter so' in Brüssel. Nicht die Vertiefung des Binnenmarktes auf allen Feldern kann die Botschaft sein. Jetzt ist ein Prozess gefragt, in dem Prioritäten neu gesetzt, aber auch Strukturen innerhalb der Europäischen Union überprüft werden müssen. Hierauf müssen sich EU-Kommission, Rat und EU-Parlament zunächst einmal konzentrieren."
Der heutige Tag sei ein Einschnitt für Europa und für den europäischen Einigungsprozess, so Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Schlussfolgerungen aus dem Referendum in Großbritannien seien aber mit historischem Bewusstsein zu ziehen. Mit Ruhe und Besonnenheit solle jetzt die Lage analysiert werden. Europa sei vielfältig. "So unterschiedlich die Menschen in Europa sind, so unterschiedlich sind auch ihre Erwartungen an die Europäische Union." Es käme jetzt darauf an, den Menschen zu vermitteln, wie sehr die EU dazu beitrage, ihre Situation zu verbessern. Die aktuellen Herausforderungen seien zu groß, dass einzelne Staaten sie lösen könnten. Die EU sei eine der größten Wirtschaftsräume der Welt.
"Idee der europäischen Einigung ist eine Friedensidee"
Die EU müsse sich als engagierter Partner in der Welt verstehen, der die Globalisierung mitgestaltet und mitgestalten will." Die Idee der europäischen Einigung sei eine Friedensidee. "Das ist und bleibt auch für die Zukunft alles andere als selbstverständlich", so die Bundeskanzlerin. Deutschland habe ein besonderes Interesse daran, dass die europäische Einigung gelinge. "Unser Ziel sollte sein, die zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union eng und partnerschaftlich zu gestalten", so Merkel mit Blick auf die künftigen Beziehungen zu Großbritannien. Ein besonderes Augenmerk werde die Bundesregierung dabei auf die Interessen der deutschen Bürger und der deutschen Wirtschaft legen.
"Das ist ein bitterer Tag für Europa", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Großbritannien habe die Europäische Union über Jahrzehnte mitgeprägt. "Es kommt jetzt darauf an, dass wir Europa zusammenhalten. Wir dürfen weder in Hysterie noch in Schockstarre verfallen", so Steinmeier. Das sei kein einfacher Tag für Europa. "Jetzt kommt es darauf an, dass wir beieinander bleiben. Zeigen, dass wir Kraft haben, diese Krise zu überwinden."
Sturz in eine tiefe Krise
Europa müsse nach dem Votum der Briten zusammenhalten, sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. "Wir respektieren den Ausgang des britischen Referendums. Ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht." Jetzt müsse nach vorne geschaut und mit dieser Situation umgegangen werden. Dazu sei er auch in engem Kontakt mit seinen Kollegen der G7-Gruppe führender Industrienationen. Das EU-Verfahren für einen Austritt aus der EU sei eindeutig geregelt und werde nun angewendet. "Das schafft Verlässlichkeit."
Die Bundestagsabgeordnete und Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zu Bielefeld, Lena Strothmann, bedauert die Entscheidung der britischen Wähler: "Das Ergebnis stürzt die Europäische Union in Zeiten großer globaler Herausforderungen in eine tiefe Krise. Wie bei anderen Referenden, die in den letzten Jahren in verschiedenen europäischen Ländern über die EU abgehalten worden sind, siegten auch diesmal die Populisten. Das Ergebnis zeigt einmal mehr, wie schwierig es ist, mit rationalen Argumenten gegen irrationale, emotionale Panikmache vorzugehen. Umso mehr muss die Entscheidung Ansporn sein, die EU zu stärken."
Grundsatzdebatte gefordert
Strothmann fordert jetzt eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der EU. "Wir müssen die Begeisterung der Menschen für das europäische Projekt wieder entfachen. Europa muss lernen sich künftig um die wirklich wichtigen Herausforderungen zu kümmern. Trotzdem sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass eine Rückkehr zum nationalstaatlichen Klein-Klein für die Bürger irgendwelche Verbesserungen bringen würde." Die Austrittsverhandlungen seien wirtschaftlich eine Zeit der Verunsicherung. In dieser Phase sei auch in Deutschland mit Investitionszurückhaltungen zu rechnen. "Immerhin ist Großbritannien einer unserer wichtigsten Handelspartner. Daher muss der Austritt Großbritanniens aus der EU im Interesse der Wirtschaft und der Sicherung von Arbeitsplätzen nun zügig angegangen werden."
Auch Bundesratspräsident Stanislaw Tillich bedauert den Ausgang des Referendums der Briten. "Es wird nun sorgfältig über die Beziehung Großbritanniens zur Europäischen Union zu verhandeln sein. Wir sind auch nach dem Austritt zu konstruktiven Gesprächen über neue Formen einer engen Zusammenarbeit bereit. Wir verabschieden uns nicht - Großbritannien bleibt europäisch auch ohne die Europäische Union." Es brauche nun Veränderungen, damit die Europäische Union besser funktioniert. Dazu gehörten vor allem klare Entscheidungsstrukturen und dort, wo es Sinn macht, wieder mehr Eigenverantwortung für die Mitgliedsstaaten. "Deshalb darf die Rückübertragung von Kompetenzen auf die Mitgliedsstaaten kein Tabu sein, da wo sich europäische Lösungen nicht bewährt haben."
"Die Europäischen Institutionen müssen sich ändern"
Auch der Mittelstandssprecher der EVP, Markus Pieper, glaubt, dass es jetzt Veränderungen geben muss: "Europa wird nicht untergehen aber die Europäischen Institutionen müssen sich ändern. Ohne die Briten sind wir in Wirtschaftsfragen noch stärker auf dem Weg in die Transfer- und Schuldenunion. Da wird auch Deutschland sein Verhältnis zur EU neu definieren müssen. Wenn das britische Beispiel nicht Schule machen soll, müssen wir die EU vom Kopf auf die Füße stellen. Bürgernähe, weniger Bevormundung und Schuldenabbau gehen jetzt vor."
Der Bund der Steuerzahler rechnet mit erheblichen Kosten: "Der Brexit ist ein bitterer Moment für ganz Europa. Diese Entscheidung wird nicht nur Großbritannien, sondern allen EU-Staaten teuer zu stehen kommen. Der Brexit wird kostspielig für die Steuerzahler. Denn alle anderen Mitglieder müssen künftig das ausgleichen, was Großbritannien als bislang drittgrößter Nettozahler leistet." Die Steuerzahler in Deutschland müssten mit Zusatzbelastungen rechnen. "Gleichzeitig sind negative Auswirkungen auf das deutsche Wirtschaftswachstum und damit auch die Steuereinnahmen zu erwarten. Somit wird der Brexit gleich in doppelter Hinsicht Spuren in den öffentlichen Kassen hinterlassen."
Die Europäische Union sei nun aufgerufen, Konsequenz und Disziplin bei den Austrittsverhandlungen mit den Briten einzufordern. Es müsse sichergestellt werden, dass es nicht zur Rosinenpickerei kommt. Die Zusammenarbeit mit den Briten müsse neu aufgesetzt werden. "Ein Brexit und gleichzeitig eine weitere Partizipation an den EU-Programmen schließt sich aus. Europa hat jetzt die Chance, Lehren aus dem Brexit zu ziehen, sich neu zu definieren und zu reformieren, um das Vertrauen der Bürger und Steuerzahler zurückzugewinnen."
Text:
Rainer Fröhlich /
handwerksblatt.de
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